Jondrette hatte sein Gespräch mit dem Stockträger beendet und wandte sich jetzt wieder Leblanc zu. Lachend fragte er:
»Sie kennen mich also nicht?«
Leblanc sah ihn ruhig an und antwortete:
»Nein.«
Jetzt trat Jondrette an den Tisch. Er beugte sich vor, kreuzte die Arme und rief:
»Ich heiße nicht Favantou, ich heiße auch nicht Jondrette, mein Name ist Thénardier! Ich bin der Gastwirt aus Montfermeil. Verstehen Sie? Thénardier! Erkennen Sie mich jetzt?«
Eine kaum bemerkbare Röte glitt über Leblancs Stirn, aber er antwortete, ohne Zittern der Stimme, ruhig wie immer:
»Noch immer nicht.«
Marius hörte diese Antwort nicht mehr. Wer ihn jetzt beobachtet hätte, dem wäre er als eine Statue des Entsetzens, der Starrheit erschienen. Als Jondrette gesagt hatte »Ich heiße Thénardier«, begann Marius zu zittern und lehnte sich an die Wand, als ob eine Degenklinge sein Herz durchbohrt hätte. Dann fiel die Hand, die die Pistole hielt, herab. Fast wäre ihr die Pistole entglitten.
Jondrette hatte mit seiner Erklärung zwar nicht Leblanc, aber Marius getroffen. Wenn auch Leblanc diesen Namen Thénardier nicht zu erkennen schien, Marius kannte ihn. Und was bedeutete ihm dieser Name! Er hatte ihn immer an seinem Herzen getragen, im Testament seines Vaters. Ein Thénardier hatte seinem Vater das Leben gerettet, und wenn er, Marius, ihn träfe, sollte er alles für ihn tun. Dieser Name war seinem Herzen heilig. Er trieb mit ihm fast den gleichen Kult wie mit der Erinnerung an den Toten.
Das also war dieser Thénardier, dieser Wirt aus Montfermeil, den er so lange vergeblich gesucht hatte! Und so mußte er ihn finden! Der Mann, der seinen Vater gerettet hatte, war ein Bandit, der Mann, dem Marius jeden Dienst leisten wollte, ein Scheusal! Jetzt war der Retter des Obersten Pontmercy im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, das Marius nicht ganz verstand, das aber einem Mord sehr ähnlich sah. Und einen Mord an wem? Welche Fügung des Schicksals! Welch bitterer Hohn des Schicksals! Sein Vater rief ihm aus dem Sarge zu, er solle alles Erdenkliche für Thénardier tun, seit vier Jahren hatte Marius keinen anderen Gedanken gehabt, als diese Schuld seines Vaters einzulösen, und jetzt, da er einen Verbrecher auf frischer Tat der Justiz überliefern wollte, rief ihm das Schicksal zu: dies ist Thénardier! Er mußte das Leben seines Vaters, das jener auf den heroischen Gefilden von Waterloo gerettet hatte, bezahlen – mit dem Schafott bezahlen! Er hatte sich vorgesetzt, er wolle diesem Thénardier zu Füßen fallen, wenn er ihn fände, und jetzt sollte er ihn dem Henker ausliefern! Die Stimme seines Vaters befahl ihm: Eile Thénardier zu Hilfe! und gleichzeitig wollte er, Marius, Thénardier vernichten.
Wenn er schoß, war Leblanc gerettet und Thénardier verloren. Schoß er nicht, so war Leblanc geopfert und Thénardier entkam vielleicht.
Marius’ Knie zitterten; ihn schwindelte. Einen Augenblick lang fürchtete er, in Ohnmacht zu fallen.
Inzwischen ging Thénardier triumphierend vor dem Tisch auf und ab.
Jetzt nahm er den Leuchter, stellte ihn heftig auf den Kamin, wandte sich Leblanc zu und schrie:
»Reingefallen! Verkohlt! Angeflogen!«
Dann begann er wieder auf und ab zu gehen.
»Also ich finde Sie wieder, Herr Philanthrop! Herr Millionär in der Bettlerkluft! Puppenverschenker! Alter Trottel! Sie erkennen mich nicht? Sie waren nicht vor acht Jahren in meiner Herberge in Montfermeil, zu Weihnachten 1823? Sie haben nicht das Kind der Fantine verschleppt? Und Sie haben nicht einen gelben Rock angehabt? Und nicht dieses Paket voll Lumpenzeug mitgebracht wie heute morgen? Sag doch, Frau – das ist wohl sein Schick, daß er überall Pakete mit Wollstrümpfen hinträgt?! Alter Wohltäter! Sie sind wohl Strumpfwirker, Sie? Verschenken Ihre Ladenhüter an die Armen, Sie heiliger Mann? Sie Schwindler! Sie erkennen mich nicht? Na, ich erkenne Sie! Gleich hab ich Sie erkannt, als Sie Ihre Nase hier hereinsteckten. Na, jetzt sieht man wenigstens, daß man nicht überall hineinkriechen darf, als Schnorrer verkleidet, die Leute beschwindeln, den Wohltäter spielen und dann im Walde den wilden Mann herauskehren! So einfach ist das nicht auf der Welt! Wenn man die Leute ruiniert hat, kann man sich nicht mit einem Überrock, der zu weit ist, und zwei elenden Spitaldecken loskaufen. Sie Kinderdieb! Damals haben Sie wohl gelacht über mich? Sie sind schuld an meinem Unglück! Für dreckige fünfzehnhundert Franken haben Sie sich das Mädel erschwindelt, das gewiß reicher Leute Kind war! Die Kleine hatte mir schon Geld eingebracht, und ich hätte von ihr leben können! Das Kind hätte mich entschädigt für alles, was ich in dieser verdammten Kaschemme verloren habe! Aber damals, im Wald, hatten Sie den Stock! Damals waren Sie der Stärkere! Jetzt kommt die Rache. Heute kann ich meine Trümpfe ausspielen, heute hängen Sie, mein Bester! Zum Lachen ist das! Schön ist er hereingefallen! Ich habe ihm erzählt, daß ich der Schauspieler Favantou bin und früher mit der Mars gespielt habe und daß der Hauswirt am vierten Februar seinen Zins haben will. Er hat nicht einmal bemerkt, daß man am achten Januar zahlt, nicht am vierten Februar! Ein unglaublicher Idiot! Dafür bringt er mir diese vier albernen Louis! Schwein! Nicht einmal hundert Franken wollte er herausrücken! Wie er auf mein dummes Gequassel hereinfiel – wirklich zum Lachen! Na, dachte ich mir, du Trottel, dich habe ich. Vormittag Katzenpfötchen, am Abend steig ich dir auf den Bauch.«
Thénardier schwieg. Der Atem war ihm ausgegangen. Seine schmale Brust keuchte.
Leblanc hatte ihn nicht unterbrochen. Erst jetzt sagte er:
»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie verkennen mich. Ich bin ganz und gar kein Millionär. Ich kenne Sie nicht. Sie verwechseln mich.«
»Ach Spaß!« schrie Thénardier, »damit kommen Sie nicht weit, Alter! Sie erinnern sich nicht? Sie sehen nicht, wer ich bin?«
»Verzeihung, Herr«, antwortete Leblanc mit einer Höflichkeit, die ebenso überraschend wie zwingend war, »ich sehe sehr wohl, wer Sie sind. Sie sind ein Bandit.«
Es ist eine Tatsache, daß auch die Lumpen ihre Empfindlichkeit haben. Bei dem Wort Bandit sprang die Thénardier vom Bett, und ihr Mann griff nach dem Stuhl, als ob er ihn in seinen Händen zerbrechen wollte.
»Rühr dich nicht!« schrie er seiner Frau zu. Dann wandte er sich wieder an Leblanc.
»Bandit? Oh, ich weiß, daß ihr uns so nennt, ihr reichen Leute! Na, es ist ja wahr, ich habe Bankrott gemacht, ich muß mich verstecken, habe kein Brot, kein Geld, also bin ich ein Bandit! Habe seit drei Tagen nichts gegessen: Bandit. Ah, ihr wärmt eure Füße, habt Pelzstiefel und wattierte Röcke wie die Erzbischöfe, ihr wohnt im ersten Stock, freßt Trüffel und Spargelbünde zu vierzig Franken im Januar, ihr besauft euch, und wenn ihr wissen wollt, ob es kalt ist, schaut ihr in der Zeitung nach, was das Thermometer sagt. Wir sind unsere eigenen Thermometer! Wir müssen nicht auf dem Boulevard, im Wetterhäuschen, nachsehen, wieviel Grade es hat, wir spüren, daß uns das Blut in den Adern gefriert und daß das Eis bis zum Herzen steigt. Und dann kommt ihr in unsere Höhlen und nennt uns Banditen! Herr Millionär, ich war Inhaber eines Geschäfts, ich hatte meinen Gewerbeschein, ich war Wähler, ich bin ein Bürger! Sie sind vielleicht gar keiner, Sie! Ich stamme nicht aus der Gosse, Herr Philanthrop, ich bin nicht einer, dessen Namen niemand weiß und der Kinder stiehlt! Ich bin ein alter französischer Soldat, ich hätte einen Orden verdient! Bei Waterloo war ich dabei, habe während der Schlacht einen General gerettet, einen Grafen Pontmercy! Das Bild, das Sie hier sehen, hat David gemalt! Wissen Sie, was es vorstellt? Und wen es darstellt? Mich! David wollte meine Heldentat verewigen. Ich trage den General Pontmercy auf meinem Rücken durch das Feuer. Er hat allerdings nichts für mich getan nachher, dieser General, er war wohl auch nicht mehr wert als die andern. Ich habe ihn mit Gefahr des eigenen Lebens gerettet! Und jetzt, nachdem ich Ihnen das alles gesagt habe, wollen wir zu Ende kommen! Ich brauche Geld, viel Geld, unerhört viel Geld, oder mit Ihnen ist es aus, Donnerkreuz!«