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Marius hatte wieder ein wenig Fassung gewonnen und horchte. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich. Das war Thénardier, von dem im Testament seines Vaters die Rede war. Marius erschauderte, als dieser Mensch seinen Vater der Undankbarkeit zieh – war er doch jetzt im Begriff, diesen Vorwurf zu rechtfertigen!

Auch Thénardier hatte wieder Atem geschöpft. Er richtete seinen gierigen Blick auf Leblanc und sagte kurz und heiser:

»Was hast du zu sagen, bevor wir dich totschlagen?«

Leblanc schwieg.

Eine verrostete Stimme aus dem Hintergrund fragte:

»Wenn Holz gespaltet werden soll, warum ruft ihr nicht mich?« Es war der Mann mit der Hacke.

Alle wandten sich um. Diesen Augenblick benützte Leblanc, stieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Faust den Tisch zurück und erreichte in einem Sprung, bevor Thénardier sich umwenden konnte, das Fenster. Es aufreißen, auf die Brüstung steigen, war das Werk eines Augenblicks. Schon war er zur Hälfte aus dem Fenster, als sechs kräftige Fäuste nach ihm griffen und ihn zurückrissen. Es waren die drei Ofensetzer, die sich auf ihn gestürzt hatten. Die Thénardier hatte ihn an den Haaren gefaßt.

Bei dem Getöse, das jetzt entstand, eilten die anderen Banditen aus dem Korridor herbei. Der Alte, der bis jetzt auf dem Bett gesessen hatte und betrunken schien, erhob sich und torkelte herbei. Er hielt einen Hammer in der Hand.

Einer der Ofensetzer, dessen geschwärztes Gesicht jetzt von der Kerze hell erleuchtet wurde, und in dem Marius trotz der Maskierung Panchaud, genannt Brigenaille, erkannte, schwang über Leblancs Kopf einen Prügel, der aus einer Eisenstange und zwei Bleikugeln bestand.

Jetzt konnte Marius nicht länger ruhig bleiben.

»Vater«, dachte er, »verzeih mir.«

Sein Finger suchte den Hahn der Pistole. Er war eben im Begriff abzuschießen, als er Thénardier rufen hörte:

»Tut ihm nichts!«

Der verzweifelte Versuch des Opfers, sich zu retten, hatte Thénardier beruhigt. In seiner Brust wohnten zwei Charaktere: Wildheit und List. Bis jetzt hatte die Sicherheit, triumphieren zu können, die Wildheit in den Vordergrund treten lassen; als das Opfer sich aber wehrte, trat die Schlauheit wieder in ihre Rechte.

»Tut ihm nichts«, wiederholte er, ohne wohl zu ahnen, daß er dadurch einen Schuß verhinderte, der Schlimmes auf ihn herabbeschwören mußte; Marius fand die Situation nicht mehr so dringlich. Er konnte noch einen Augenblick warten. Vielleicht würde ein Zufall ihn aus dieser fürchterlichen Alternative befreien, Ursules Vater zu vernichten oder den Retter seines Vaters zu verraten.

Im Nebenzimmer war ein wilder Kampf im Gange. Leblanc hatte den alten Riesen mit einem mächtigen Faustschlag auf die Brust getroffen; dann hatte er zwei andere zu Boden geschleudert. Jetzt aber hielten vier andere den athletischen Greis und zwangen ihn nieder. Leblanc kniete auf den beiden Männern, die er niedergestreckt hatte, die vier andern beugten sich über ihn. Er verschwand in diesem Knäuel wie ein Eber in einer Meute.

Endlich gelang es den vieren, ihr Opfer auf das Bett zu schleppen und dort festzuhalten. Die Thénardier hielt ihn noch immer an den Haaren.

»Misch du dich nicht ein«, rief Thénardier, »du wirst dir nur deinen Schal zerreißen.« Knurrend gehorchte sie ihm, wie die Wölfin dem Wolf nachgibt.

»Und ihr andern«, befahl Thénardier, »durchsucht ihn!«

Leblanc schien auf jeden Widerstand verzichtet zu haben. Man fand bei ihm eine Lederbörse, die sechs Franken enthielt, und sein Taschentuch.

»Kein Portefeuille?« fragte Thénardier.

»Nicht einmal eine Uhr«, erklärte einer der Ofensetzer.

Thénardier holte aus der Ecke das Bündel Stricke und warf es den Leuten zu.

»Bindet ihn an den Fuß des Bettes!«

Gleichzeitig bemerkte er den Alten, den Leblanc mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte und der sich noch immer nicht rührte.

»Ist Boulatruelle tot?«

»Nein, nur besoffen.«

»Dann schmeißt ihn in die Ecke«, befahl Thénardier. »Warum hast du nur so viele Leute hergeschleppt, Babet?« fragte er den Stockträger, »das war doch unnütz.«

»Was willst du? Alle wollten mit von der Partie sein. Die Saison ist schlecht. Kein Geschäft.«

Leblanc wehrte sich nicht mehr. Die Briganten banden ihn fest. Als der letzte Knoten geknüpft war, nahm Thénardier einen Stuhl und setzte sich Leblanc gegenüber. Er war jetzt vollständig verändert. Marius konnte in dem höflichen Lächeln dieses Beamtengesichts kaum die bestialische Grimasse erkennen, die er eben noch gesehen hatte. Der Tiger hatte sich in einen Advokaten verwandelt.

»Herr«, sagte Thénardier und winkte den Briganten zu, sie sollten beiseite treten. »Herr, Sie taten unrecht, als Sie aus dem Fenster springen wollten. Sie hätten sich ein Bein brechen können. Jetzt können wir, wenn es Ihnen recht ist, ruhig sprechen. Ich muß Sie zuerst auf eine Beobachtung aufmerksam machen, auf ein kleines Detail, das mir nicht entgangen ist: Sie haben während des ganzen Kampfes nicht geschrien. Mein Gott, wenn Sie ein bißchen um Hilfe geschrien hätten, ich hätte weiter gar nichts dabei gefunden. Man plärrt bei solchen Gelegenheiten – ich hätte es Ihnen wirklich nicht verübelt. Man schlägt eben Lärm, wenn man sich mit Leuten allein findet, denen man nicht vollständiges Vertrauen entgegenbringt. Übrigens ist dieses Zimmer sehr dumpf. Es hat sonst keine Vorteile, aber diesen hat es. Es ist eine rechte Höhle. Wenn hier eine Bombe platzt, glauben die Leute auf dem nächsten Wachtposten, ein Besoffener hat gegrunzt. Es ist ein bequemer Aufenthalt. Aber Sie haben nicht geschrien, und das ist noch besser. Ich gratuliere Ihnen. Aber ich möchte Sie etwas fragen. Lieber Herr, wer kommt, wenn man schreit? Die Polizei. Und wer folgt der Polizei auf dem Fuß? Die Justiz. Sie haben nicht geschrien. Also wünschen Sie nicht die Justiz und die Polizei zu sehen. Ich habe lange Zeit schon so etwas geahnt, Sie wünschen irgend etwas zu verbergen. Das liegt offenbar in Ihrem Interesse. Wir unsererseits, wir wünschen dasselbe. Unsere Interessen begegnen sich. Also können wir uns verständigen.«

Während er so sprach, schien Thénardier mit seinen scharfen Blicken im Herzen seines Gefangenen lesen zu wollen. Er sprach jetzt beherrscht und fast gewählt, so daß man diesen Banditen für einen Zögling eines Priesterseminars hätte halten können.

Das Schweigen, das der Gefangene selbst in höchster Lebensgefahr bewahrt hatte, dieser Widerstand, den er der natürlichen Regung, aufzuschreien, geleistet hatte, berührte Marius peinlich. Thénardiers anscheinend wohlbegründete Bemerkung verdichtete noch das Dunkel, das die seltsame Erscheinung jenes Mannes umgab, den Courfeyrac Herr Leblanc getauft hatte. Aber wer immer er auch sein mochte, in seiner höchst gefährlichen Lage, gefesselt, von Mördern umgeben, bewahrte er seine vollendete Ruhe; Marius konnte sich einer Regung ehrfürchtigen Staunens nicht erwehren, wenn er dieses selbst jetzt noch erhaben melancholische Gesicht betrachtete.

Thénardier stand jetzt auf und trat an den Kamin; er schob einen Paravent beiseite und gab den Ausblick auf die Eisengeräte frei, die in dem Feuer glühten.

Dann setzte er sich wieder vor Leblanc hin.

»Nun«, sagte er, »wir können uns verständigen. Einigen wir uns freundschaftlich. Ich bin zu weit gegangen. Weiß der Teufel, wo mein Verstand in diesem Augenblick war. Gewiß habe ich verrücktes Zeug geredet. Zum Beispiel habe ich gesagt, daß ich sehr, sehr viel Geld brauche, von Ihnen, da Sie ja Millionär sind. Das war unvernünftig. Sie sind ja reich, weiß Gott, aber auch Sie haben Verpflichtungen. Wer hat keine? Ich will Sie nicht ruinieren, ich bin kein Halsabschneider. Zu den Leuten, die einen Vorteil ausnützen bis zur Lächerlichkeit, gehöre ich nicht. Auch ich will Opfer bringen. Ich verlange nur zweihunderttausend Franken.«