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Leblanc äußerte kein Wort.

»Sie sehen«, fuhr Thénardier fort, »daß ich mich mäßige. Ich weiß nicht, wieviel Sie haben, aber es kommt Ihnen gewiß nicht darauf an, denn ein Wohltäter wie Sie kann einem unglücklichen Familienvater schon einmal mit zweihunderttausend Franken aushelfen. Gewiß sind Sie vernünftig genug und bilden sich nicht ein, daß ich eine so große Sache arrangiere wie heute – es steckt Arbeit darin, Herr! –, um von Ihnen ein Trinkgeld zu erpressen. Zweihunderttausend Franken, soviel ist die Sache wert. Sobald Sie diese Bagatelle herausgerückt haben, bürge ich Ihnen dafür, daß alles geordnet ist. Sie werden sagen: ich habe den Betrag nicht bei mir. Gut, das habe ich auch nicht geglaubt. So etwas verlange ich gar nicht. Ich will nur etwas: seien Sie so liebenswürdig und schreiben Sie, was ich Ihnen jetzt diktiere.«

Jetzt unterbrach sich Thénardier, dann fuhr er mit einem Lächeln fort:

»Wenn Sie behaupten wollen, daß Sie nicht schreiben können, würde ich auf diesen Scherz allerdings nicht eingehen.«

Ein Großinquisitor hätte ihn um dieses Lächeln beneiden können. Er schob den Tisch vor Leblanc hin, nahm aus der Lade Feder, Papier und Tinte.

»Schreiben Sie.«

Endlich antwortete der Gefangene:

»Wie soll ich schreiben, ich bin doch gebunden!«

»Das ist allerdings wahr, entschuldigen Sie.« Thénardier wandte sich zu Bigrenaille: »Binde den rechten Arm des Herrn los.«

Es geschah. Thénardier tauchte die Feder in die Tinte und reichte sie Leblanc.

»Beachten Sie wohl, mein Herr, daß Sie vollkommen in meiner Gewalt sind. Keine menschliche Macht kann Sie daraus befreien, und es wäre uns recht unlieb, wenn wir gezwungen wären, zum Äußersten zu greifen. Ich weiß weder Ihren Namen noch Ihre Adresse, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie hier angebunden bleiben, bis der Überbringer des Briefes, den Sie jetzt schreiben werden, zurückkommt. Jetzt schreiben Sie.«

Leblanc nahm die Feder.

»Meine Tochter …«

Der Gefangene blickte auf.

»Schreiben Sie: Meine liebe Tochter«, befahl Thénardier.

Leblanc gehorchte. Dann fuhr Thénardier fort:

»Komme sofort …«

Er unterbrach sich.

»Sie duzen sie doch?«

»Wen?«

»Na, die Kleine.«

Leblanc antwortete scheinbar ohne die leiseste Erregung:

»Ich weiß nicht, von wem sie sprechen.«

»Gut, schreiben Sie weiter: Komm sofort. Ich brauche Dich dringend. Die Überbringerin dieses Briefes ist beauftragt, Dich zu mir zu führen. Folge ihr ohne Mißtrauen.«

Leblanc hatte alles geschrieben.

»Halt«, rief Thénardier, »streichen Sie das mit dem Mißtrauen; die Kleine wird nur auf Ideen kommen.«

Leblanc strich die vier Worte.

»So, und jetzt unterschreiben Sie. Wie heißen Sie übrigens?«

Der Gefangene legte die Feder weg und fragte:

»An wen ist dieser Brief gerichtet?«

»Das wissen Sie doch, an die Kleine. Ich habe es Ihnen schon gesagt.«

Offensichtlich wollte Thénardier den Namen des Mädchens nicht nennen. Er war geschickt und wollte sein Geheimnis selbst vor seinen Komplizen wahren. Wenn er ihren Namen nannte, gab er das ganze »Geschäft« aus der Hand, und sie erfuhren mehr, als nötig war.

»Unterschreiben Sie. Wie heißen Sie?«

»Urbain Fabre.«

Thénardier griff in die Tasche und zog ein Tuch hervor. Er sah das Monogramm an.

»U. F., soso. Urbain Fabre. Unterschreiben Sie U. F.«

Der Gefangene folgte.

»Ich werde den Brief für Sie falten, denn Sie können es ja mit einer Hand nicht tun. So, und jetzt schreiben Sie die Adresse. Fräulein Fabre. Ich weiß, daß Sie nicht allzu weit von hier wohnen, irgendwo bei Saint-Jacques du Haut-Pas. Die Straße allerdings weiß ich nicht. Ich sehe übrigens, daß Sie Ihre Lage begriffen haben. Da Sie Ihren Namen richtig angaben, werden Sie auch die Adresse nicht fälschen.«

Der Gefangene zögerte einen Augenblick, dann nahm er die Feder und schrieb:

»Mademoiselle Fabre, bei Herrn Urbain Fabre, Rue St.-Dominique d’Enfer 17.«

Fieberhaft griff Thénardier nach dem Brief.

»Frau!« rief er.

Die Thénardier eilte herbei.

»Du weißt, was du zu tun hast. Komm bald zurück.«

Dann rief er den Mann mit dem Stock:

»Du begleitest die Bürgerin. Weißt du, wo der Wagen wartet?«

»Ja.«

Er stellte seinen Stock in den Winkel und folgte der Thénardier.

Eine Minute verging, dann hörte man Peitschenknallen.

»Na«, murmelte Thénardier, »die machen es ja nicht langsam. In drei viertel Stunden sind sie zurück.«

Er rückte seinen Stuhl an den Kamin, kreuzte die Arme und hielt die Füße an das Feuer.

»Eine Hundekälte«, murrte er.

Jetzt waren außer Thénardier und dem Gefangenen nur noch fünf Banditen in der Stube. Die Leute sahen unter ihren Masken wie Köhler, Neger oder Teufel aus und schienen ganz stumpf zu sein. Man fühlte, daß sie ein Verbrechen wie ihr Handwerk ausübten, ruhig, ohne Zorn und ohne Erbarmen, fast gelangweilt. Sie hockten in einem Winkel und schwiegen. Thénardier wärmte sich die Füße. Der Gefangene war wieder in sein tiefes Schweigen versunken. Man hörte nur den ruhigen Atem des Betrunkenen, der wieder schlief.

Marius lauschte mit steigender Angst. Das Rätsel war für ihn undurchdringlicher als je. Wer war die »Kleine«, die er seine Ursule genannt hatte? Der Gefangene hatte ganz arglos gesagt: Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Andererseits bedeuteten die beiden Buchstaben U. F. Urbain Fabre, Ursule war also nicht mehr Ursule. Das war das einzige, was Marius begriff. Wie hypnotisiert blieb er an seinem Platz. Noch immer hoffte er auf irgendeinen Zwischenfall, der ihn der Verpflichtung überhob, sich zu etwas zu entscheiden.

Auf jeden Fall werde ich ja sehen, dachte er, ob sie gemeint war, denn die Thénardier wird sie hierherbringen. Dann ist alles entschieden, ich gebe dann gern mein Leben, wenn ich sie befreien kann. Nichts wird mich aufhalten.

Eine halbe Stunde verstrich. Thénardier war noch immer in Gedanken versunken. Der Gefangene rührte sich nicht. Doch glaubte Marius zuweilen und in Abständen ein ganz leises Geräusch von ihm her zu hören.

Plötzlich wandte Thénardier sich wieder an ihn:

»Hören Sie, Herr Fabre, wie die ganze Sache vor sich gehen soll. Meine Frau wird gleich kommen. Werden Sie nur nicht ungeduldig. Ich denke, daß die Lerche wirklich Ihre Tochter ist, und finde es ganz begreiflich, daß Sie auf sie aufpassen. Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Sie soll nur an einen ruhigen Ort gebracht werden, wo sie warten wird, bis Sie die zweihunderttausend bezahlt haben. Wenn Sie mich verhaften lassen, wird mein Kamerad der Kleinen den Hals umdrehen. So steht die Sache.«

Der Gefangene äußerte nichts.

»Das ist doch gar nicht kompliziert, nicht wahr? Dem Mädel geschieht nichts Böses, wenn Sie selbst nicht wollen. Sobald ich weiß, daß die Kleine unterwegs ist, lassen wir Sie frei, und Sie können nach Hause schlafen gehen. Sie sehen, wir haben nichts Böses mit Ihnen vor.«

Furchtbare Bilder beängstigten Marius. Also die Leute wollten das Mädchen entführen? Eine dieser Bestien sollte zum Wächter dieses Mädchens werden?

Was sollte er tun? Jetzt schießen? Alle diese Schurken der Justiz übergeben? Dieser furchtbare Kerl mit dem Stock war ja bereits fort, hatte sich des jungen Mädchens schon bemächtigt. Thénardier hatte es ja selbst gesagt: wenn Sie mich verhaften lassen, dreht mein Kamerad der Kleinen den Hals um.

Jetzt hörte man die Haustür gehen.

»Sie kommt zurück«, sagte Thénardier.

Schon stürzte die Frau atemlos und keuchend herein.