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»Falsche Adresse!« schrie sie.

Der Bandit, der sie begleitet hatte, trat in den Winkel und holte seinen Stock.

»Eine falsche Adresse?« fragte Thénardier.

»Rue Saint-Dominique Nr. 17 wohnt kein Urbain Fabre. Thénardier, dieser Alte hat dich an der Nase herumgeführt! Du bist, weiß Gott, viel zu gutmütig. Hättest du ihm wenigstens gleich auf Vorschuß das Maul krumm geschlagen! Ich, wenn es auf mich ankäme, ich hätte ihn lebendig geröstet. Ich würde ihn schon zum Reden bringen: wo das Mädchen ist und wo das Geld. So hätte ich es gemacht! Aber die Männer sind ja immer blöder als die Frauen.«

Marius atmete auf. Ursule – er wußte ja nicht, wie er sie sonst nennen sollte – war gerettet.

Thénardier betrachtete nachdenklich das Kohlenbecken. Dann wandte er sich langsam und doch grimmig an den Gefangenen.

»Eine falsche Adresse? Was versprichst du dir davon?«

»Zeit zu gewinnen«, antwortete der Gefangene.

Und im selben Augenblick schüttelte er die Stricke ab. Er war jetzt nur mehr mit einem Bein an das Bett gebunden.

Bevor die sieben Männer Zeit gefunden hatten, sich auf ihn zu werfen, hatte er die Hand nach dem Kamin ausgestreckt, und jetzt sahen Thénardier und die Banditen, die erschrocken zurücksprangen, wie er den weißglühenden Meißel drohend schwang.

Bei der gerichtlichen Untersuchung, die später im Gorbeauschen Hause stattfand, wurde ein Soustück gefunden, das mit dem Fleiß, den nur Bagnosträflinge aufbringen, der Länge nach gespalten worden war. Diese schrecklichen und doch erstaunlichen Werke der Kunstfertigkeit stellen im Bereich des Kunstgewerbes ungefähr dasselbe dar wie die oft so farbenprächtigen Bilder der Verbrechersprache in der Poesie. Es gibt im Bagno Leute von der Art eines Benvenuto Cellini, so wie es in der Kunstsprache einen Villon gibt. Unselige, die zu entspringen suchen, finden, zuweilen ohne die geringste Hilfe und ohne alles Werkzeug, Mittel und Wege, einen Sou in zwei dünne Scheiben zu zerschneiden. Ein altes Messer muß ihnen genügen, um dieses Wunderwerk zu vollbringen. Dann wird in die Spalte eine Uhrfeder gesteckt und am Rande der Münze eine kleine Schraube angebracht, so daß sie wieder zusammengelegt werden können. Jetzt dient sie als Medaillon.

Offenbar hatte der Gefangene die Uhrfeder, die als Säge diente, aus der Münze genommen, die er vielleicht während seiner Fesselung in der Hand hielt, und so seine Stricke zersägt. Das ist wohl die Erklärung für das leise Geräusch, das Marius beobachtet hatte.

Inzwischen hatten die Banditen sich wieder gefaßt.

»Sei unbesorgt«, sagte Bigrenaille zu Thénardier, »mit dem einen Bein hängt er noch, und für den Strick bürge ich. Den habe ich verknotet.«

Jetzt erhob der Gefangene die Stimme:

»Ihr seid Elende, aber mein Leben ist nicht wert, daß ich es mit solcher Mühe verteidige. Wenn ihr euch aber einbildet, ihr werdet mich zum Sprechen bringen oder mich zwingen, etwas zu schreiben, was ich nicht schreiben will …«, er schob den linken Ärmel zurück: »seht her!«

Er legte den glühenden Meißel, den er in der Rechten hielt, auf das Fleisch. Man hörte ein Aufzischen, und dieser widerwärtige Geruch, der den Torturkammern eigentümlich ist, verbreitete sich in der Stube. Marius fuhr entsetzt zurück, und sogar die Banditen schauderten. Der seltsame Greis aber zuckte kaum mit den Wimpern, während das rote Eisen in die blutende Wunde eindrang, sondern richtete seinen strengen Blick ohne Haß auf Thénardier.

»Ihr Elenden«, rief er jetzt, »fürchtet euch nicht mehr vor mir, als ich euch fürchte.«

Dann riß er den Meißel aus der Wunde und schleuderte ihn zum Fenster hinaus.

»Und jetzt tut mit mir, was ihr wollt.«

Er war entwaffnet.

»Vorwärts!« schrie Thénardier.

Zwei der Banditen legten ihm die Hand auf die Schultern, und ein Maskierter, der mit einer Art Bauchstimme sprach, stellte sich mit dem schweren Schlüssel hinter ihn, um ihm im Notfall den Schädel einzuschlagen.

Im nächsten Augenblick hörte Marius folgende Worte rasch und leise gesprochen:

»Jetzt bleibt uns nichts mehr übrig.«

»Schluß mit ihm!«

»Richtig.«

Thénardier und seine Frau hatten beratschlagt.

Er näherte sich langsam dem Tisch, zog die Lade heraus und entnahm ihr das Küchenmesser.

Bis jetzt hatte Marius gehofft, vergeblich gehofft, er werde ein Mittel finden, den einen zu retten, ohne den andern zu verderben. Nun war kein Aufschub mehr möglich. Thénardier stand mit dem Messer vor dem Gefangenen und lauerte.

Der entsetzte Blick Marius’ irrte mechanisch durch sein Zimmer. Plötzlich zitterte er. Ein heller Strahl Mondlicht fiel auf ein Blatt Papier, das zu seinen Füßen lag. Auf dieses Blatt hatte heute morgen die ältere Tochter Thénardier geschrieben:

»Die Polente ist da!«

Blitzhaft fuhr ein Gedanke durch Marius’ Gehirn. Das war vielleicht die Lösung, die er suchte. Er bückte sich, streckte den Arm aus, hob das Papier auf, knüllte es zusammen und warf es durch sein Guckloch mitten in den Raum.

Es war die höchste Zeit. Thénardier hatte offenbar seine letzten Bedenken überwunden und trat eben auf den Gefangenen zu.

»Da fällt etwas herein!« schrie die Thénardier.

»Was?«

Die Frau hatte das zusammengeknüllte Papier aufgehoben, sie reichte es ihrem Manne.

»Wo ist das hergekommen?« fragte Thénardier.

»Woher soll das kommen?«

»Durchs Fenster doch.«

»Ich habe es fliegen gesehn«, sagte Bigrenaille.

Thénardier faltete das Blatt auseinander und näherte es der Kerze.

»Eponines Schrift. Verdammt!«

Er winkte seiner Frau, zeigte ihr das Blatt und sagte dann leise:

»Rasch, die Strickleiter! Wir lassen sie in den Hof und hauen ab.«

»Ohne den Kerl da abzukillen?«

»Keine Zeit!«

»Wo hinaus?«

»Durchs Fenster. Da Ponine das Papier durchs Fenster hereingeworfen hat, muß dieser Ausweg noch frei sein.«

Schon hatten die Banditen den Gefangenen losgelassen. Im nächsten Augenblick war die Strickleiter aufgerollt und wurde am Fensterkreuz befestigt.

Der Gefangene achtete der Dinge kaum, die rings um ihn geschahen. Er schien zu träumen oder zu beten.

»Komm, Bürgerin!« rief Thénardier.

Sie eilte zum Fenster.

Im selben Augenblick aber riß Bigrenaille sie zurück.

»Holla, ihr Schwindler, nach uns!«

»Erst wir!« riefen auch die andern.

»Ihr Kindsköpfe«, rief Thénardier, »wir wollen doch keine Zeit verlieren.«

»Sollen wir etwa losen, wer als erster hinaussteigt?«

»Ihr seid ja verrückt!« schrie Thénardier, »vollkommen auf den Kopf gefallen! Wollt ihr vielleicht die Namen auf Zettel schreiben und die Zettel in einer Mütze sammeln?«

»Darf ich Ihnen meinen Hut anbieten?« fragte eine Stimme von der Tür her.

Alle wandten sich um.

Es war Javert, der ihnen lächelnd seinen Hut hinhielt.

Man soll immer zuerst die Opfer verhaften

Zuerst hatte Javert sich bestrebt, die Töchter Thénardiers in die Hand zu bekommen. Aber er hatte nur Azelma erwischt. Eponine hatte ihren Posten verlassen und war entkommen. Dann hatte Javert auf den verabredeten Schuß gewartet. Er sah den Wagen abfahren und wiederkommen und begriff, daß alles im Gange war. Schließlich war er ungeduldig geworden, überzeugt, daß er hier einen guten Fang tun werde, und hatte sich entschlossen, nicht länger auf den Schuß zu warten.

Der Leser erinnert sich, daß er Marius’ Hausschlüssel hatte.

So war er gerade rechtzeitig gekommen.

Die Banditen stürzten zu den Waffen. In der nächsten Sekunde standen sie, mit allerlei Werkzeugen bewaffnet, abwehrbereit da. Die Thénardier ergriff einen Pflasterstein, der sonst einer ihrer Töchter als Schemel diente.