In gewisser Weise hatten ihn die Mitteilungen über die Verhältnisse in der Pathologie nicht überrascht. Sie schilderten einen Zustand, den er schon seit einiger Zeit vermutete. Dessenungeachtet hatten ihn die beiden Vorfälle mit Rufus und Reubens unsagbar erschreckt. Dornberger war auch überzeugt, daß O'Donnell diese Zusammenkunft niemals einberufen hätte, wenn er nicht ernstlich besorgt gewesen wäre, und er respektierte das Urteil des Chefs der Chirurgie.
Gleichzeitig wünschte Charles Dornberger Joe Pearson zu helfen, falls er es konnte, und in diesem Augenblick war er über die Flut der Vorfälle bedrückt, die den alten Pathologen zu überschwemmen schienen. Aber davon abgesehen, klangen O'Donnells Worte aufrichtig, als er sagte, es bestehe keine Absicht, Pearson auszubooten, und die anderen schienen der gleichen Auffassung zu sein. Er sah ein, daß er vielleicht der geeignetste Vermittler war. Vielleicht konnte er Joe auf diese Weise am besten helfen.
Dornberger sah die anderen der Reihe nach einzeln an. »Ist das die einhellige Meinung?«
Nachdenklich erklärte Lucy Grainger: »Ich habe Joe sehr gern, wie wir alle, glaube ich. Aber mir scheint, daß einige Veränderungen in der Pathologie notwendig sind.« Es waren die ersten Worte, die Lucy sprach. Auch sie hatte sich über diese Besprechung mit Kent O'Donnell Gedanken gemacht. Die Ereignisse am Abend vorher in ihrer Wohnung hatten sie in einer seltsamen Weise beunruhigt, wie sie es seit Jahren nicht mehr kannte. Nachher hatte sie sich gefragt, ob sie O'Donnell liebe, sich dann selbst gesagt und sich nur halb geglaubt -, daß Worte dieser Art zwar gut für junge und temperamentvolle Menschen paßten, aber in ihrem Alter - bei ihrer Reife und Unabhängigkeit und mit einer eigenen Praxis - prüfte und überlegte man und überwand plötzlich aufwallende Gefühlsregungen. In diesem Augenblick war sie allerdings in der Lage, persönliche Gefühle vom beruflichen Standpunkt zu trennen und über die Probleme in der Pathologie sachlich zu urteilen. Man lernte das als Arzt sehr bald - private Dinge aus seinen Gedanken auszuschließen, wenn unmittelbare Fragen bedeutsamer waren.
O'Donnell sah Rufus an. »Bill?«
Der Chirurg nickte. »Gut. Wenn Charlie mit Pearson sprechen will, bin ich einverstanden.«
Harvey Chandler war der nächste. Gewichtig setzte der Chef der inneren Abteilung Dornberger auseinander: »Meiner Meinung nach ist das der beste Weg, die Angelegenheit zu behandeln. Sie werden uns allen und auch dem Krankenhaus dadurch einen sehr großen Dienst erweisen.«
»Also schön«, antwortete Dornberger, »ich will sehen, was ich tun kann.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und O'Donnell empfand Erleichterung. Er wußte, daß das Problem verstanden worden war und daß jetzt wenigstens etwas geschehen würde. Wenn dieser Versuch fehlschlug, mußte er unmittelbare Schritte unternehmen. Manchmal, dachte er, wäre es einfacher, wenn das medizinische Protokoll weniger kompliziert wäre. In der Industrie wurde ein Mann, der seine Aufgabe nicht angemessen erfüllte, entlassen. Wenn man wünschte, daß ihm ein Assistent zur Seite stehe, wurde ihm das mitgeteilt, und im allgemeinen war der Fall damit erledigt. Aber in der Medizin und in einem Krankenhaus ging man weniger gradlinig vor. Die Grenzen der Autorität waren selten klar gezogen, und der Leiter einer medizinischen Abteilung war nach seiner Ernennung weitgehend Herr in seinem Reich. Noch wichtiger war, daß man vor wirklich drastischen Maßnahmen zurückscheute, weil man es mit mehr als nur einem Arbeitsplatz zu tun hatte. Man stellte ungern die Fähigkeiten eines Mannes in Frage, der, wie man selbst, von seinem beruflichen Ansehen abhing. Es war eine delikate Frage, bei der eine einzige Entscheidung die gesamte Zukunft und den Lebensunterhalt eines Kollegen beeinflussen konnte. Das war der Grund, weshalb man vorsichtig vorging, Dinge dieser Art sorgfältig verhüllte und dem Einblick von außen entzog.
Harry Tomaselli sagte leise: »Wir werden uns also nach einem Pathologen umsehen müssen, wenn ich richtig verstehe.«
»Ich denke, wir sollten damit anfangen«, antwortete O'Donnell dem Verwaltungsdirektor und sah dann die anderen an. »Ich nehme an, daß die meisten von uns Verbindungen besitzen, durch die man es verbreiten kann. Wenn Sie von irgend jemand hören - vielleicht einem guten Mann, der gerade seine Zeit als Assistenzarzt abgeschlossen hat -, wäre ich dankbar, wenn man mich informierte.«
»Pathologen können gegenwärtig weitgehend nach Belieben wählen«, meinte Bill Rufus.
»Ich weiß. Es wird gar nicht so leicht sein. Das ist ein Grund mehr, Joe vorsichtig zu behandeln«, fügte O'Donnell dann hinzu.
Harry Tomaselli hatte in eine seiner Schreibtischschubladen gegriffen und einen Aktendeckel herausgezogen. »Hier ist vielleicht etwas, das Sie interessiert«, sagte er.
»Was haben Sie denn da?« fragte Harvey Chandler.
»Ich habe kürzlich die Liste der frei werdenden Pathologen erhalten«, antwortete Tomaselli. »Offen gesagt, hatte ich etwas Ähnliches schon erwartet und darum gebeten. Vor ein oder zwei Wochen erhielt ich diesen Namen.«
»Darf ich sehen?« O'Donnell griff nach dem Papier, das Tomaselli in der Hand hielt. Er wußte, daß die sogenannte >Offene Liste< Krankenhäusern auf Verlangen in regelmäßigen Abständen zugeschickt wurde. Sie enthielt Informationen über Pathologen, die für offene Stellen zur Verfügung standen, und die genannten Männer hatten genehmigt, daß ihr Name aufgenommen wurde. Es gab ferner eine vertrauliche Liste, die aber ausschließlich den Mitgliedern des Fachverbandes der Pathologen zur Verfügung stand. Zum größten Teil enthielt die >Vertrauliche Liste < Ärzte, die mit ihrer gegenwärtigen Stellung unzufrieden waren und unauffällig nach einer anderen suchten. Krankenhäuser, die einen Pathologen einstellen wollten, teilten das dem Fachverband mit, der die Ärzte, die auf der >Vertraulichen Liste< standen, informierte. Dann konnte jeder, der wollte, sich direkt an das Krankenhaus wenden. Doch ungeachtet dieser Einrichtung wurden, wie O'Donnell bekannt war, die meisten Pathologen immer noch auf Grund persönlicher Verbindungen und Empfehlungen angestellt.
Er betrachtete das Blatt, das der Verwaltungsdirektor ihm gereicht hatte. Es nannte den Namen eines Dr. David Coleman, einunddreißig Jahre alt. O'Donnell zog die Augenbrauen hoch, als er Colemans Zeugnisse und Ausbildungsgang sah. Mit Auszeichnung die Universität von New York absolviert, Assistent im Bellevue, zwei Jahre in der Armee, den größten Teil als Pathologe, fünf Jahre Assistenzarzt für Pathologie, auf drei gute Krankenhäuser verteilt. Das war ein Mann, der sich um die denkbar beste Ausbildung bemüht hatte.
Er reichte das Papier an Rufus weiter. »Ich bezweifle sehr, daß er uns überhaupt in Frage ziehen wird«, sagte er zu Tomaselli. »Bei seinen Qualifikationen und dem Anfangsgehalt, das wir ihm bezahlen können, glaube ich es nicht.« O'Donnell wußte aus einem früheren Gespräch mit dem Verwaltungsdirektor, daß sich das Gehalt auf etwa zehntausend Dollars im Jahr beschränken mußte.
Rufus sah auf. »Das scheint mir auch. Der Mann kann zwischen den Krankenhäusern in den großen Städten wählen.« Er gab das Blatt an Harvey Chandler weiter.
»Nun, Tatsache ist.« Tomaselli schwieg. Sein Ton war ungewöhnlich zurückhaltend, als ob er seine Worte genau abwäge.
Neugierig fragte O'Donnelclass="underline" »Ja, was, Harry?«
»Nun, Tatsache ist, daß sich Dr. Coleman für unser Krankenhaus durchaus interessiert.« Tomaselli machte eine Pause. »Ich vermute, daß er etwas von den Veränderungen in letzter Zeit und unseren Plänen für die Zukunft gehört hat.«
O'Donnell beendete das plötzliche Schweigen. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe mit ihm korrespondiert.«