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Seit fast zweiunddreißig Jahren war er jetzt Arzt. In ein oder zwei Wochen würde er sein dreiunddreißigstes beginnen. Es waren ausgefüllte Jahre gewesen, und befriedigende. Finanziell kannte er keine Sorgen. Seine vier eigenen Kinder waren verheiratet, und er und seine Frau konnten bequem von den Einkünften aus seinen wohlüberlegten Anlagen leben. Aber konnte er sich schon zufriedengeben? Sich zur Ruhe setzen und verbauern? Da lag der Haken.

In all seinen Jahren als Arzt war es Charles Dornbergers Stolz gewesen, seine Kenntnisse auf dem neuesten Stand zu halten. Er hatte sich schon vor langer Zeit fest vorgenommen, sich von keinem jungen Neuling weder in der Technik noch im Wissen übertreffen zu lassen. Die Folge war, daß er eifrig gelesen hatte und es immer noch tat. Er war auf viele medizinische Zeitschriften abonniert, die er gründlich studierte und für die er selbst manchmal Beiträge schrieb. Er war ein regelmäßiger Teilnehmer an medizinischen Tagungen und verfolgte gewissenhaft die meisten Fachkongresse. Schon früh in seiner Laufbahn, lange ehe die gegenwärtigen Spezialgebiete in der Medizin voneinander abgegrenzt worden waren, sah er die Notwendigkeit der Spezialisierung voraus. Er hatte sich für Geburtshilfe und Gynäkologie entschieden, eine Wahl, die er nie bedauerte und von der er oft empfand, daß sie dazu beigetragen habe, ihn jung und seinen Verstand aufnahmefähig zu erhalten.

Aus diesem Grunde war Dornberger in der Mitte der dreißiger Jahre, als in Amerika die Spezialistenverbände gegründet wurden, bereits als Facharzt für sein Arbeitsgebiet anerkannt und wurde infolgedessen unter der sogenannten >Großvaterklausel< ohne Prüfung in den Fachverband aufgenommen. Darauf war er immer ehrlich stolz. Wenn es eine Wirkung auf ihn gehabt hatte, dann nur die, daß er sich noch gründlicher bemühte, mit den jüngsten Entwicklungen Schritt zu halten.

Und dennoch hatte er nie eine Abneigung gegen jüngere Männer empfunden. Wenn er der Ansicht war, sie seien gut und gewissenhaft, hatte er alles getan, um ihnen zu helfen und zu raten. Er bewunderte und respektierte ODonnell. Er hielt die Berufung des jungen Chefs der Chirurgie für eines der besten Dinge, die dem Three Counties Hospital je widerfahren waren. Mit den Veränderungen und Fortschritten, die O'Donnell in das Krankenhaus gebracht hatte, war auch seine eigene Arbeitsfreude gestiegen.

Er hatte viele Freunde gefunden, einige unter seinen unmittelbaren Kollegen, andere an den unwahrscheinlichsten Stellen. Joe Pearson konnte einer der Unwahrscheinlichen genannt werden. Beruflich gesehen, betrachteten die beiden Männer vieles von ganz verschiedenen Standpunkten. Dornberger wußte beispielsweise, daß Joe in der letzten Zeit nicht viel las. Er hatte den Verdacht, daß der alte Pathologe auf ein paar Wissensgebieten zurückgeblieben war, und in der Leitung seiner Abteilung stand manches problematisch, wie sich auf der gestrigen Besprechung gezeigt hatte. Und trotzdem, im Laufe der Jahre hatte sich zwischen den beiden Männern ein festes Band gebildet. Zu seiner Überraschung entdeckte er, daß er sich manchmal auf den Sitzungen des medizinischen Ausschusses auf Joe Pearsons Seite stellte und auch im privaten Gespräch den Pathologen gelegentlich verteidigte.

Dornbergers Bemerkungen auf der Sterblichkeitskonferenz vor zehn Tagen lagen auf dieser Linie. Er vermutete, daß andere die Verbindung zwischen ihm und Joe kannten. Was hatte Gill Bartlett gesagt? »Sie sind ja sein Freund. Und außerdem: die Geburtshelfer verfolgt er nicht mit seiner Blutrache.« Bis zu diesem Augenblick war ihm diese Bemerkung entfallen, aber jetzt erinnerte er sich an den erbitterten Ton und bedauerte ihn. Bartlett war ein guter Arzt, und Dornberger nahm sich vor, bei der nächsten Begegnung besonders herzlich zu ihm zu sein.

Aber vor ihm lag immer noch sein eigenes Problem. Sich zurückziehen oder nicht? Und falls er sich zurückzog, wann?

Erst kürzlich hatte er trotz der sorgfältigen Überwachung seines Gesundheitszustandes festgestellt, daß er leicht ermüdete. Und obwohl in seinem ganzen Leben Nachtbesuche eine Selbstverständlichkeit gewesen waren, schienen sie ihm seit kurzem schwerer zu fallen. Gestern hatte er beim Essen gehört, wie Kersh, der Dermatologe, zu einem neuen Praktikanten sagte: »Sie sollten sich auch auf die Haut spezialisieren, mein Sohn. Ich bin seit fünfzehn Jahren nachts nicht mehr aus dem Bett geholt worden.« Dornberger hatte mit den übrigen gelacht, aber insgeheim einen leichten Neid empfunden.

Von einem war er allerdings überzeugt: Er würde nicht weitermachen, sobald er feststellte, daß er nachließ. Im Augenblick war er so gut wie immer, das wußte er. Sein Kopf war klar, seine Hand sicher, die Augen scharf. Er beobachtete sich selbst immer sorgfältig, weil er wußte, daß er bei dem ersten Anzeichen eines Versagens nicht zögern würde; er würde seinen Schreibtisch ausräumen und gehen. Zu oft hatte er gesehen, wie andere versuchten, zu lange bei der Stange zu bleiben. Das würde er nie tun.

Aber im Augenblick? Nun, er würde alles drei Monate weiterlaufen lassen und dann wieder darüber nachdenken.

Inzwischen hatte er den Tabak fest in seine Pfeife gestopft und griff jetzt nach den Streichhölzern. Er war im Begriff, eines anzureißen, als das Telefon klingelte. Er legte Pfeife und Streichhölzer hin und antwortete: »Hier Dr. Dornberger.«

Es war eine seiner Patientinnen. Vor einer Stunde hatten die Wehen bei ihr eingesetzt. Jetzt war die Fruchtblase geplatzt, und sie hatte Wasser verloren. Sie war eine junge Frau Anfang Zwanzig und bekam ihr erstes Kind. Sie klang atemlos, als ob sie nervös sei und ihre Unruhe zu unterdrücken versuche. Wie schon so viele Male gab Dornberger seine Anweisungen mit ruhiger Stimme. »Ist Ihr Mann im Hause?«

»Ja, Doktor.«

»Dann packen Sie Ihre Sachen zusammen, und lassen Sie sich von ihm ins Krankenhaus bringen. Ich komme zu Ihnen, sobald Sie hier sind.«

»Ja, Doktor.«

»Sagen Sie Ihrem Mann, er soll vorsichtig fahren und vor jedem roten Licht halten. Wir haben noch viel Zeit. Sie werden es sehen.«

Selbst durch das Telefon konnte er spüren, daß es ihm gelungen war, sie zu beruhigen. Das gehörte zu den Dingen, die er oft tat, und er betrachtete es ebensosehr als einen Teil seiner Aufgabe, wie jede medizinische Maßnahme. Aber er spürte, wie sich seine Sinne unwillkürlich schärften. Jeder neue Fall übte diese Wirkung auf ihn aus. Logischerweise, dachte er, hätte ich dieses Gefühl schon lange verlieren müssen. Wenn man in der Medizin über lange Erfahrung verfugte, wurde von einem erwartet, daß man abgehärtet, mechanisch und unsentimental war. Das hatte auf ihn allerdings nie zugetroffen - vielleicht deshalb, weil er immer noch das tat, was er am meisten liebte.

Er griff nach der Pfeife, ließ sie dann liegen und nahm das Telefon ab. Er mußte seiner Station mitteilen, daß sich eine neue Patientin auf dem Weg ins Krankenhaus befand.

VIII

»Ich bin nicht einmal überzeugt, daß der Kampf gegen die Kinderlähmung gut oder notwendig ist.«

Der Sprecher war Eustace Swayne, der Gründer eines Warenhauskonzerns, steinreicher Philanthrop und Mitglied des Verwaltungsausschusses des Three Counties Hospitals. Der Ort war die düstere, eichengetäfelte Bibliothek in Swaynes altem, aber imposantem Haus, das für sich abgesondert in einem fünfzig Morgen großen Park am östlichen Stadtrand Burlingtons stand.

»Aber, aber! Das können Sie nicht ernst meinen«, entgegnete Orden Brown leichthin. Der Vorsitzende des Krankenhausausschusses lächelte den beiden Frauen in dem Raum zu; seiner eigenen Frau Amelia und Swaynes Tochter Denise Quantz.

Kent O'Donnell nahm einen kleinen Schluck von dem Kognak, den der lautlose Diener ihm gebracht hatte, und lehnte sich in dem tiefen Ledersessel zurück, in dem er Platz genommen hatte, als er nach dem Abendessen mit den anderen den Raum betrat. Ihm ging durch den Kopf, daß sie ein fast mittelalterliches Bild boten. Er sah sich in der gedämpft beleuchteten Bibliothek um, ließ seine Blicke über die Reihen ledergebundener Bücher schweifen, die sich bis unter die hohe, getäfelte Decke erstreckten, über die dunklen, schweren Eichenmöbel, über den großen, höhlenartigen Kamin, in dem Kloben für ein Feuer aufgeschichtet waren - sie brannten jetzt, an diesem warmen Juliabend, nicht, lagen aber bereit, jederzeit aufzuflammen, sobald ein Diener ein Streichholz daran hielt. O'Donnell gegenüber thronte Eustace Swayne wie ein König auf einem gradlehnigen, steifen, gepolsterten Lehnstuhl, während die anderen vier fast wie Höflinge einen Halbkreis vor dem alten Finanzhai bildeten.