»Das meine ich durchaus ernst.« Swayne stellte sein Kognakglas hin und beugte sich bei seinen nächsten Worten vor. »Ja, ich gebe zu, wenn man mir ein Kind mit geschienten Beinen zeigt, jammere ich wie alle anderen auch und greife nach meinem Scheckbuch. Aber ich spreche von dem großen Ganzen. Tatsache ist - und ich fordere jeden auf, mir zu widersprechen -, daß wir uns die größte Mühe geben, die menschliche Rasse zu verweichlichen.«
Das war ein bekanntes Argument. Höflich entgegnete O'Donnelclass="underline" »Wollen Sie vorschlagen, daß wir die medizinische Forschung aufgeben, uns mit unseren gegenwärtigen medizinischen Kenntnissen und Techniken begnügen und nicht versuchen sollen, weitere Krankheiten zu besiegen?«
»Das könnte man gar nicht«, erwiderte Swayne. »Das können Sie so wenig, wie die Schweine von Gadara davon abzuhalten waren, sich von den Klippen zu stürzen.«
O'Donnell lachte. »Ich weiß nicht recht, ob mir dieses Bild gefällt. Aber wenn es so ist, wozu dann dagegen argumentieren?«
»Warum?« Swayne schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Weil man immer noch etwas beklagen kann, selbst wenn man es auch mit aller Gewalt nicht ändern kann.«
»Ich verstehe.« O'Donnell war sich nicht sicher, ob ihm diese Diskussion sehr zusagte und er sie weiterführen sollte. Außerdem mochte sie nicht dazu beitragen, sein oder Orden Browns Verhältnis zu Swayne zu verbessern, was doch der wirkliche Grund seines Hierseins war. Er sah die anderen im Zimmer an. Amelia Brown, die er bei seinen Besuchen im Hause des Vorsitzenden recht gut kennenge lernt hatte, begegnete seinem Blick und lächelte. Als eine Frau, die an dem Leben ihres Mannes regen Anteil nahm, war sie über die Krankenhauspolitik gut informiert.
Swaynes verheiratete Tochter, Denise Quantz, hatte sich vorgebeugt und hörte gespannt zu.
Bei dem Essen hatte O'Donnell sich verschiedentlich dabei ertappt, daß seine Blicke fast gegen seinen Willen auf Mrs. Quantz gerichtet waren. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß sie die Tochter des schroffen, harten Mannes war, der am Kopfende des Tisches saß. Mit achtundsiebzig zeigte Eustace Swayne immer noch viel von der Zähigkeit, die er im Mahlstrom des Wettbewerbs zwischen den großen Einzelhandelsunternehmen erworben hatte. Manchmal nutzte er den Vorteil seines Alters aus, um seinen Gästen spitzige Bemerkungen hinzuwerfen, obwohl O'Donnell den Verdacht hegte, daß ihr Gastgeber in den meisten Fällen damit eine Diskussion herausfordern wollte. O'Donnell überraschte sich bei dem Gedanken, der alte Mann liebe immer noch den Kampf, selbst wenn er nur mit Worten geführt wird. Ebenso spürte er jetzt instinktiv, daß Swayne seine Ansichten über die Medizin bewußt überspitzt formulierte, wenn im Augenblick vielleicht auch nur, um hart und unabhängig zu erscheinen. Während ODonnell den alten Mann beobachtete, kam er auf die Vermutung, daß Gicht und Rheumatismus dabei eine Rolle spielen mochten.
Im Gegensatz zu ihrem Vater gab sich Denise Quantz sanft und freundlich. Sie hatte die Gabe, den Bemerkungen ihres Vaters die Schärfe zu nehmen, indem sie ein oder zwei Worte zu dem, was er sagte, hinzufügte. Sie ist zweifellos schön, dachte O'Donnell, sie hat die seltene reife Anmut, die Frauen um vierzig manchmal besitzen. Er erriet, daß sie bei Eustace Swayne zu Besuch war und recht häufig nach Burlington kam, wahrscheinlich um über ihren Vater zu wachen. Er wußte, daß Swaynes Frau vor vielen Jahren gestorben war. Aus der Unterhaltung wurde allerdings erkennbar, daß Denise Quantz meistens in New York lebte. Ein paarmal wurden Kinder erwähnt, aber mit keinem Wort ihr Mann. Er gewann den Eindruck, daß sie entweder von ihm getrennt lebte oder geschieden war. O'Donnell überraschte sich dabei, daß er Denise Quantz mit Lucy Grainger verglich. Zwischen diesen beiden Frauen liegt eine Welt, dachte er. Lucy Grainger, die in ihrem Beruf aufging, ihr medizinisches Fachgebiet beherrschte und sich im Krankenhaus sicher bewegte, die in der Lage war, ihm auf dem ihnen beiden vertrauten Gebiet gegenüberzutreten. Und dagegen Denise Quantz, eine Frau, die Zeit hatte und unabhängig war, die zweifellos in der Gesellschaft eine Rolle spielte und die dennoch - so empfand er ein Mensch war, der ein Heim mit Wärme und Heiterkeit erfüllen konnte. O'Donnell fragte sich, welche Art Frau für einen Mann besser sei: eine, die seiner Arbeit nahestand, oder eine andere unabhängige und gelöste, mit Interessen, die über seinen Alltag hinausgingen.
Seine Gedanken wurden von Denise unterbrochen. Zu ihm vorgebeugt sagte sie: »Sie werden es doch sicher nicht so schnell aufgeben, Dr. O'Donnell. Bitte lassen Sie das meinem Vater nicht durchgehen.«
Der alte Mann grollte: »Da gibt es nichts durchgehen zu lassen. Die Situation ist völlig klar. Jahrhundertelang hielt die Natur die Bevölkerung im Gleichgewicht. Wenn die Geburtsraten zu schnell anstiegen, sorgten Hungersnöte für den Ausgleich.«
Orden Brown warf ein: »Aber zum Teil wirkten dabei politische Gründe mit. Es war nicht immer nur die Natur.«
»Das will ich Ihnen in manchen Fällen zugestehen«, erwiderte Eustace Swayne mit einer lebhaften Handbewegung. »Aber die Ausmerzung der Schwachen hat nichts mit Politik zu tun.«
»Meinen Sie die Schwachen oder die Unglücklichen?« fragte O'Donnell. Schön, dachte er dabei, wenn Sie Gegenargumente hören wollen, sollen Sie sie haben.
»Ich meine, was ich sage - die Schwachen.« Die Stimme des alten Mannes hatte einen schärferen Ton, aber O'Donnell spürte, daß er an der Auseinandersetzung Vergnügen empfand. »Wenn die Pest oder eine Seuche auftrat, waren es die Schwachen, die zugrunde gingen, und die Starken überlebten. Andere Krankheiten bewirkten das gleiche. Es wurde eine Norm aufrechterhalten - die Norm der Natur. Und deshalb waren es die Starken, die stets überlebten. Sie waren es, die die nächste Generation zeugten.«
»Glauben Sie wirklich, Eustace, daß die Menschheit heute so degeneriert ist?« Amelia Brown stellte diese Frage, und O'Donnell sah, daß sie lächelte. Sie weiß, daß Swayne diesen Wortstreit genießt, dachte er.
»Wir nähern uns der Degeneration«, antwortete der alte Mann, »zumindest in der westlichen Welt. Wir erhalten die Krüppel, die Schwächlinge, die von Krankheit Geschlagenen. Wir bürden der Gesellschaft Lasten auf, nichtproduzierende Geschöpfe - die Unfähigen, die nicht in der Lage sind, zum Allgemeinwohl beizutragen. Sagen Sie mir doch, welchem Zweck ein Sanatorium oder ein Heim für unheilbare Kranke dient? Ich sage Ihnen, die Medizin erhält heute Menschen, die man sterben lassen sollte. Aber wir helfen ihnen statt dessen, weiterzuleben, lassen sie Nachkommen haben und sich vermehren und ihre Nutzlosigkeit an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben.«
O'Donnell hielt ihm vor: »Die Beziehungen zwischen Krankheit und Vererbung sind bei weitem noch nicht geklärt.«
»Stärke liegt sowohl im Verstand als auch im Körper«, erwiderte Eustace Swayne heftig. »Erben Kinder nicht die geistigen Merkmale ihrer Eltern - samt ihren Schwächen?«
»Nicht immer.« Jetzt wurde die Diskussion zwischen dem alten Mann und O' Donnell geführt. Die anderen lehnten sich zurück und hörten zu.
»Aber doch sehr häufig. Oder etwa nicht?«
O'Donnell lächelte. »Gewisse Anzeichen sprechen dafür, ja.«