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Zum zweiten Male an diesem Morgen griff Schwester Wilding, grauhaarig und mit sechsundfünfzig Jahren eine der ältesten Pflegerinnen des Krankenhauses, in ihre Schwesternuniform und zog den Brief heraus, den sie bereits zweimal gelesen hatte, seit er zusammen mit der Post ihrer Patienten auf ihren Schreibtisch gelegt worden war. Das Foto eines jungen Marineleutnants mit einem hübschen Mädchen am Arm fiel heraus, als sie ihn auseinanderfaltete, und sie betrachtete einen Augenblick lang das Bild, ehe sie den Brief noch einmal las. »Liebe Mutter«, begann er, »es wird dich sicher sehr überraschen, aber ich habe hier in San Franzisko ein Mädchen kennengelernt, und gestern haben wir geheiratet. Ich weiß, daß das für dich in mancher Weise eine große Enttäuschung bedeutet, da du immer gesagt hast, du wolltest an meiner Hochzeit teilnehmen. Aber ich bin überzeugt, du wirst es verstehen, wenn ich dir sage...«

Schwester Wilding ließ ihre Augen von dem Brief abschweifen und dachte an den Jungen, den sie in Erinnerung und den sie so selten gesehen hatte. Nach der Scheidung hatte sie für Adam gesorgt, bis er aufs College ging. Dann war Annapolis gefolgt, mit ein paar Wochenendbesuchen und kurzen Ferien. Danach kam die Marine. Und jetzt war er ein Mann, der einer anderen gehörte. Sie durfte nicht vergessen, nachher ein Telegramm mit vielen lieben und guten Wünschen an sie aufzugeben. Vor Jahren hatte sie immer gesagt, daß sie ihren Beruf aufgeben werde, sobald Adam auf eigenen Füßen stehen und sich selbst erhalten könne, aber sie hatte es dann doch nicht getan, und jetzt würde die Pensionierung schnell genug kommen, ohne daß sie etwas dazu tat. Sie schob Brief und Foto in die Tasche zurück und griff nach der Feder, die sie niedergelegt hatte. Dann fügte sie in sorgfältigen Buchstaben auf dem Krankenblatt hinzu: »Leichtes Erbrechen und Durchfall.

Dr. Reubens benachrichtigt.«

In der Entbindungsstation im vierten Stock konnte nie vorausgesagt werden, zu welcher Stunde des Tages es ruhig sein würde. Babys, dachte Dr. Charles Dornberger, während er sich neben zwei anderen Geburtshelfern die Hände wusch, hatten die lästige Angewohnheit, in Gruppen zu kommen. Es gab Stunden und selbst Tage, während derer alles ordentlich und ruhig verlief und Kinder ordentlich eines nach dem anderen zur Welt gebracht werden konnten. Dann brach plötzlich der Teufel los, und ein halbes Dutzend wartete darauf, gleichzeitig geboren zu werden. Einer dieser Augenblicke war jetzt gekommen.

Seine eigene Patientin, eine dralle, ewig fröhliche Negerin, stand im Begriff, ihr zehntes Kind zur Welt zu bringen. Weil sie spät in das Krankenhaus gekommen war und die Wehen schon weit fortgeschritten waren, hatte man sie von der Notaufnahme auf einem Wagen heraufgebracht. Während Dornberger noch seine Hände bürstete, konnte er einen Teil ihrer Unterhaltung draußen mit dem Medizinalpraktikanten hören, der sie in die Abteilung hinauf begleitet hatte.

Anscheinend hatte der Praktikant den Personenaufzug unten im Erdgeschoß von anderen Fahrgästen frei gemacht, wie es in dringe nden Fällen üblich war.

»Haben Sie wegen mir all die netten Leute aus dem Aufzug geschickt?« fragte sie. »So wichtig bin ich noch nie im Leben genommen worden.« Darauf hörte Dornberger, wie der Praktikant ihr beruhigend zuredete, sie solle sich nicht aufregen. »Ich mich aufregen, mein Sohn?« antwortete sie. »Aber ich bin doch ganz ruhig. Ich bin immer ganz ruhig, wenn ich ein Baby bekomme. Das ist die einzige Zeit, wo ich mal nicht spülen muß, und nicht waschen und kochen. Ich freue mich immer, hierherzukommen. Für mich ist das wie ein Urlaub.« Sie schwieg, als Schmerzen nach ihr griffen, und murmelte dann zwischen zusammengepreßten Zähnen: »Neun Kinder hab' ich schon. Das ist mein zehntes. Der älteste ist so groß wie Sie, mein Sohn. Sie können mit mir auch im nächsten Jahr rechnen. Ich verspreche Ihnen, dann komme ich wieder.« Dornberger hörte ihr Kichern verklingen, nachdem die Schwestern des Kreißsaales sie übernommen hatten, während der Praktikant an seinen Platz in der Notaufnahme zurückkehrte.

Und dann folgte Dr. Dornberger gewaschen, im Operationsanzug, steril, aber vor Hitze schwitzend, seiner Patientin in den Entbindungsraum.

In der Krankenhausküche, wo die Hitze sich weniger drückend auswirkte, weil die Leute, die dort arbeiteten, an sie gewöhnt waren, probierte Hilda Straughan, die Küchenleiterin, ein Stück Rosinenkuchen und nickte dem feisten Konditor anerkennend zu. Sie befürchtete zwar, die Kalorien aus der Kostprobe würden sich zusammen mit anderen in einer Woche auf der Waage in ihrem Badezimmer zeigen, beruhigte ihr Gewissen aber damit, daß sie sich sagte, es gehöre zu ihren Pflichten, von den Speisen der Krankenhausküche so viele wie möglich zu kosten. Außerdem war es für Mrs. Straughan jetzt schon etwas spät, um sich noch wegen der Kalorien und ihres Körpergewichts Sorgen zu machen. Infolge zahlloser früherer Kostproben zeigte ihre Waage gegenwärtig rund zweihundert Pfund, von denen sich ein großer Teil in ihren prächtigen Brüsten befand, Zwillingsvorgebirgen, die im ganzen Krankenhaus berühmt waren und ihrem Gang die Majestät eines Flugzeugträgers, verliehen, dem zwei Schlachtschiffe als Geleit vorauslaufen.

Aber ebensosehr wie das Essen liebte Mrs. Straughan ihre Arbeit. Zufrieden sah sie sich um und überblickte ihr Reich: die schimmernden Stahlherde und Serviertische, die glänzenden Küchengeräte, die schneeweißen Schürzen der Köche und ihrer Helfer. Bei diesem Anblick wurde ihr warm ums Herz.

Es war die arbeitsreichste Zeit in der Küche. Das Mittagessen war die größte Mahlzeit des Tages, weil außer allen Patienten der gesamte Stab des Krankenhauses in der Kantine verpflegt werden mußte. In etwa zwanzig Minuten mußten die Tabletts mit den Speisen in die Krankenstationen hinaufgeschickt werden, und die anschließende Ausgabe des Essens in der Kantine dauerte zwei Stunden. Dann begannen die Köche mit der Vorbereitung des Abendbrots, während das Hilfspersonal das Geschirr spülte und aufräumte.

Der Gedanke an das Geschirr veranlaßte Mrs. Straughan zu einem sorgenvollen Stirnrunzeln, und sie begab sich in den hinteren Teil der Küche, wo zwei große, veraltete Geschirrspülmaschinen standen. Dieser Teil ihres Reiches war weniger glänzend und modern als die anderen, und die Küchenleiterin empfand nicht zum erstenmal, daß sie glücklich wäre, wenn sie auch hier wie in der übrigen Küche eine Modernisierung durchsetzen könnte. Sie sah allerdings ein, daß nicht alles auf einmal geschehen könne, und mußte zugeben, daß sie in den zwei Jahren, die sie ihre Stellung im Three Counties Hospital innehatte, der Krankenhausverwaltung eine ganze Menge kostspieliger neuer Anlagen abgezwungen hatte. Dessen ungeachtet entschloß sie sich, während sie weiterging, um die Wärmplatten im Eßsaal zu kontrollieren, den Verwaltungsdirektor bald wieder wegen ihrer Geschirrspüler anzusprechen.

Die Küchenleiterin war nicht die einzige Person in dem Krankenhaus, die ans Essen dachte. In der Röntgenabteilung, in der zweiten Etage, war ein ambulanter Patient - Mr. James Bladwick, Vizepräsident für Verkauf bei einer der drei führenden Autovertretungen in Burlington - nach seinen eigenen Worten >hungrig wie ein Wolfe.

Das hatte seinen Grund. Auf Anweisung seines Arztes hatte Jim Bladwick seit Mitternacht gefastet und befand sich jetzt im Röntgenraum Nr. 1, bereit zu einer Durchleuchtung der Verdauungsorgane. Die Röntgenstrahlen sollten den Verdacht, daß in Bladwicks Eingeweiden ein Zwölffingerdarmgeschwür wuchere, bestätigen oder widerlegen. Jim Bladwick hoffte, daß der Verdacht unbegründet sei. Tatsächlich hoffte er inbrünstig, daß sich weder ein Geschwür noch etwas anderes verschworen hatte, ihn jetzt zu behindern, grade jetzt, da sein Eifer und seine Opfer der letzten drei Jahre, seine Bereitschaft, angestrengter und länger als jeder andere im Verkaufsstab zu arbeiten, sich endlich bezahlt machten. Gewiß hatte er Sorgen. Wer hätte keine, wenn man jeden Monat die Absatzquote einer Vertretung erfüllen mußte. Aber es durfte einfach kein Geschwür sein. Es mußte etwas anderes sein, etwas Geringfügiges, das schnell in Ordnung gebracht werden konnte. Er war nicht länger als sechs Wochen Vizepräsident für Verkauf, aber trotz des hochtrabenden Titels wußte er besser als jeder andere, daß die Erhaltung dieser Stellung von seiner unverminderten Fähigkeit zu arbeiten abhing. Und um zu arbeiten, mußte er auf der Höhe bleiben: zäh, einsatzbereit, gesund. Kein ärztliches Attest konnte eine sinkende Absatzkurve ausgleichen. Jim Bladwick hatte diesen Augenblick seit einiger Zeit hinausgeschoben. Es war vermutlich zwei Monate her, daß er Unbehagen und unbestimmbare Schmerzen in der Magengegend bemerkt und auch häufiges Aufstoßen, manchmal in den ungeeignetsten Augenblicken, wenn er mit Kunden verhandelte, beobachtet hatte. Eine Zeitlang versuchte er, sich einzureden, es handle sich um nichts Besonderes, aber schließlich hatte er ärztlichen Rat gesucht, und die jetzige morgendliche Verabredung war das Ergebnis. Er hoffte allerdings, daß sie nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen würde. Der Abschluß mit Fowlers für sechs Lastwagen stand kurz bevor, und er brauchte diesen Abschluß dringend. Mein Gott, was hatte er für einen Hunger!