Vivian fand Mike Seddons Brief, nachdem sie ihre letzte Unterrichtsstunde des Tages hinter sich hatte und in die Schwesternunterkunft zurückkam. Er war persönlich abgeliefert worden und wartete im Postregal unter dem Buchstaben L auf sie. Er bat sie, ihn an diesem Abend um neun Uhr fünfundvierzig im vierten Stock des Krankenhauses vor der Kinderabteilung zu treffen. Zunächst hatte sie nicht die Absicht, hinzugehen, weil sie keinen offiziellen Grund hatte, sich um diese Zeit im Krankenhaus aufzuhalten, und in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn sie einer der Schulschwestern in die Hände lief. Aber dann stellte sie fest, daß sie doch gern gehen wollte, und um neun Uhr vierzig lief sie über den hölzernen Fußweg, der vom Schwesternheim zum Hauptgebäude des Krankenhauses führte.
Mike wartete auf sie. Er schlenderte dem Anschein nach in Gedanken versunken durch den Gang. Sobald er sie aber sah, winkte er sie zu einer Tür, und sie gingen hindurch. Hinter der Tür lag eine Treppe, die nach oben und nach unten führte. Zu dieser Nachtstunde war sie still und verlassen, und sie würden beizeiten gewarnt werden, falls jemand kam. Mike führte sie an der Hand die halbe Treppe bis zum nächsten Absatz hinunter. Dann drehte er sich um, und es erschien ihr das Natürlichste in der Welt, daß sie sich in seine Arme legte.
Während sie sich küßten, spürte sie, wie Mike sie fester umschlang, und plötzlich überfiel sie der Zauber des gestrigen Abends wieder. In diesem Augenblick wußte sie, warum sie so sehr gewünscht hatte, hierherzukommen. Dieser Mann mit dem ungebärdigen roten Haar war ihr plötzlich unentbehrlich geworden. Sie wünschte ihn in jeder Weise, wünschte bei ihm zu sein, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu lieben. Es war ein elektrisierendes, erregendes Gefühl, das sie früher nicht gekannt hatte. Er küßte jetzt ihre Wangen, ihre Augen, ihre Ohren. Das Gesicht in ihrem Haar, flüsterte er: »Vivian, Liebling, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich konnte nichts anderes tun.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie an. »Weißt du, was du tust?« Sie schüttelte den Kopf. »Du unterminierst mich.« Sie legte wieder ihre Arme um ihn. »Oh, Mike, Liebling.«
Es war heiß in dem Treppenhaus. Vivian spürte die Wärme seines Körpers trotz ihrer eigenen Glut. Nun tasteten seine Hände suchend. Mit zitternder Stimme flüsterte sie: »Mike, können wir nicht woanders hingehen?«
Sie spürte, wie seine Hände innehielten, und mußte darüber lächeln. Er sagte: »Ich wohne zusammen mit Frank Worth in einem Zimmer. Aber heute abend ist er fort und kommt erst spät zurück. Willst du es riskieren und mit dorthinkommen?« Sie zögerte. »Was passiert, wenn wir erwischt werden?«
»Wir werden beide aus dem Krankenhaus hinausgeworfen.« Er küßte sie wieder. »Im Augenblick ist mir das egal.« Er ergriff ihre Hand. »Komm mit.«
Sie gingen eine Etage tiefer und durch einen Gang. Sie begegneten einem anderen Assistenzarzt, der zwar grinste, als er die beiden sah, aber nichts sagte. Dann über eine weitere Treppe in einen weiteren Gang. Dieses Mal trat kurz vor ihnen eine weiße Gestalt aus einer Tür. Vivians Herz setzte aus, als sie die Oberschwester erkannte. Aber die Oberschwester drehte sich nicht um und verschwand hinter einer anderen Tür, ehe sie an ihr vorbeikamen. Dann gelangten sie in einen engeren, stilleren Korridor mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten. Unter manchen Türen schimmerte Licht hindurch, und hinter einer konnten sie Musik hören. Vivian erkannte Chopins e-moll-Konzert. Das Burlingtoner Symphonieorchester hatte es vor ein oder zwei Monaten gespielt.
»Hier herein.« Mike hatte eine Tür geöffnet, und sie traten schnell ein. Es war dunkel, aber sie konnte die Umrisse von Feldbetten und einem Sessel erkennen. Hinter sich hörte sie das Schloß zuschnappen, als Mike den Schlüssel umdrehte.
Gierig, fordernd griffen sie nacheinander. Seine Finger waren an den Knöpfen ihrer Schwesternuniform. Als sie zögerten, half sie ihm. Nun stand sie im Unterrock da. Einen Augenblick hielt er sie fest umfaßt. Gemeinsam genossen sie die Qual des Hinauszögerns. Dann bewegten sich seine Hände, hoben ihr sanft, zärtlich und mit köstlicher Verheißung das Unterkleid über den Kopf. Während sie zu dem Bett trat, streifte sie ihre Schuhe ab. Hinter ihr war eine schnelle Bewegung, und dann war er bei ihr, halfen seine Hände ihr wieder. »Vivian, Liebling. Vivian.«
Sie hörte ihn kaum. »Warte nicht, Mike, bitte warte nicht länger.« Sie spürte seinen Körper, der sich wild, verlangend gegen sie preßte. Sie erwiderte ungezügelt, kämpfte leidenschaftlich, um ihn fester, näher, tiefer an sich zu bringen.
Dann gab es plötzlich nichts mehr in der Welt, nichts, als einen Gipfel stürmischer Ekstase, rasend, sengend, schneidend, der näher, näher, näher kam.
Als sie nachher still nebeneinanderlagen, konnte Vivian die Musik wieder hören, die schwach über den Gang klang. Es war wieder Chopin, diesmal die Etüde in E-dur. Es erschien ihr seltsam, daß sie sich in diesem Augenblick bemühte, eine Komposition wiederzuerkennen, aber die fließende, packende Melodie, die sie gedämpft im Dunkeln hörte, entsprach ihrer Stimmung in diesem Augenblick der Erfüllung.
Mike beugte sich über sie und küßte sie sanft. »Vivian, Liebling, ich will dich heiraten.«
Leise fragte sie zurück: »Bist du ganz sicher, Mike?«
Seine Worte kamen so unvermittelt, daß es ihn selbst überraschte. Mike folgte einem Impuls, aber in seinem Innersten erkannte er plötzlich, daß es die Wahrheit war. Seine Absicht, Verpflichtungen auszuweichen, schien unsinnig und schal. Dies war eine Bindung, die er wollte und die alle anderen ausschloß. Jetzt wurde ihm bewußt, was ihn den ganzen Tag über und früher schon beunruhigt hatte. Von diesem Augenblick an beunruhigte es ihn nicht mehr. Typisch für ihn antwortete er auf Vivians Frage scherzend: »Sicher bin ich sicher. Du etwa nicht?«
Während sie die Arme um ihn legte, murmelte Vivian: »Ich bin mir noch nie so sicher gewesen.«
»He!« Mike machte sich los, stützte sich auf einen Ellenbogen, und sah sie an. »Über allem anderen habe ich eines vergessen. Was ist mit deinem Knie?«
Vivian lächelte übermütig. »Heute abend hat es uns nicht gestört oder doch?«
Nachdem er sie wieder geküßt hatte, bat er: »Erzähle mir, was Lucy Grainger gesagt hat.«
»Sie hat nichts gesagt, sondern das Knie heute nachmittag durch Dr. Bell röntgen lassen, und will mich in ein paar Tagen zu sich rufen.«
»Ich bin erst wieder ruhig, wenn das geklärt ist«, sagte Mike.
Vivian antwortete: »Sei nicht albern, Liebling. Wie kann so eine kleine Beule etwas Ernsthaftes sein?«
X
Boston, Mass. den 7. August Mr. H.N. Tomaselli, Verwaltungsdirektor Three Counties Hospital, Burlington, Pa. Sehr geehrter Mr. Tomaselli, seit meinem Besuch in Burlington vor einer Woche habe ich über die Stellung in der Pathologie am Three Counties Hospital gründlich nachgedacht.
Ich schreibe Ihnen, um Ihnen mitzuteilen, daß ich entschlossen bin, die Stellung unter den besprochenen Bedingungen anzunehmen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Ansicht inzwischen nicht geändert haben.
Sie sagten, daß Sie großen Wert darauflegten, daß, wer die Stellung auch übernehme, so bald wie möglich mit der Arbeit beginnen solle. Da mich hier nichts weiter festhält, kann ich nach Regelung einiger Kleinigkeiten am 15. August in Burlington antreten, das heißt also, in genau einer Woche. Ich nehme an, daß Sie damit einverstanden sind.
Dr. O'Donnell erwähnte mir gegenüber Junggesellenapartments, die bald fertiggestellt sein und in der Nähe des Krankenhauses liegen sollen. Ich wüßte gern, ob Ihnen darüber Näheres bekannt ist und würde es, falls ja, gern erfahren. Inzwischen sind Sie vielleicht so gütig, mir in einem Hotel für den 14. ein Zimmer reservieren zu lassen.