»Das haben Sie in Ihrem Schwesternkursus wohl noch nicht durchgenommen, wie?«
Sie schüttelte den Kopf.
Pearson erklärte: »Nun, Dr. Grainger beabsichtigt, ein kleines Stück Knochengewebe unter Ihrem Knie herauszunehmen, gerade dort, wo etwas nicht in Ordnung zu sein scheint. Das kommt dann zu mir herunter, und ich werde es untersuchen.«
Vivian fragte: »Und können Sie daraus sehen, was damit ist?«
»Meistens kann ich das.« Er wollte gehen, zögerte dann. »Treiben Sie viel Sport?«
»O ja, Doktor. Tennis, Schwimmen, Skilaufen.« Sie fügte hinzu: »Ich reite auch sehr gern. In Oregon bin ich sehr viel geritten.«
»So, in Oregon«, antwortete er nachdenklich, und dann, während er sich abwendete: »Nun gut, Vivian, das ist im Augenblick alles.«
Lucy lächelte. »Ich komme später wieder.« Sie nahm das Krankenblatt und die Röntgenfilme und folgte Pearson hinaus.
Als sich die Tür schloß, empfand Vivian zum erstenmal einen ahnungsvollen, furchtsamen Schauer.
Als sie ein Stück den Gang hinuntergegangen waren, fragte Lucy: »Was meinen Sie dazu, Joe?«
»Es kann ein Knochentumor sein.« Pearson sagte es langsam, nachdenklich.
»Bösartig?«
»Das ist möglich.«
Sie kamen zu den Fahrstühlen und blieben stehen. Lucy sagte: »Wenn er bösartig ist, muß ich das Bein amputieren.«
Pearson nickte kngsam. Er sah plötzlich sehr alt aus. »Ja«, antwortete er, »daran dachte ich auch gerade.«
XI
Die Viscount legte sich weich gegen den Wind und begann, an Höhe zu verlieren. Fahrgestell und Landeklappen waren ausgefahren, und sie flog genau Landebahn Nr. 1 des Flughafens Burlington an. Während Dr. Kent O'Donnell das näher kommende Flugzeug von dem Terrassencafe aus beobachtete, überlegte er flüchtig, daß Luftfahrt und Medizin vieles gemeinsam hätten. Beide fußten auf den Erkenntnissen der Wissenschaften, beide veränderten das Leben in der Welt und beseitigten überkommene Vorstellungen. Beide bewegten sich unbekannten Horizonten und einer nur dunkel erahnten Zukunft entgegen. Es gab noch eine Parallele. Der Luftfahrt fiel es heute schwer, mit ihrer eigenen Entwicklung Schritt zu halten. Ein Flugzeugkonstrukteur, den er kannte, hatte ihm kürzlich gesagt: »Wenn ein Flugzeug für den Einsatz fertig ist, ist es auch schon überholt.«
In der Medizin, dachte O'Donnell, während er seine Augen vor der strahlenden Nachmittagssonne beschattete, war es weitgehend das gleiche. Krankenhäuser, Kliniken und die Ärzte selbst waren nie in der Lage, ihr Wissen auf dem jüngsten Stand zu erhalten. Ungeachtet, wie sehr sie sich darum bemühten, immer waren ihnen die Forschung, die Entwicklung, die neuesten Techniken voraus, manchmal um Jahre. Heute konnte ein Mensch sterben, obwohl das rettende Medikament bereits erfunden war und in begrenztem Umfang vielleicht schon angewendet wurde. Aber es brauchte Zeit, bis die neuen Entwicklungen bekannt wurden und Anerkennung fanden. Das galt auch für die Chirurgie. Ein Chirurg oder eine Gruppe von Chirurgen entwickelte vielleicht eine neue lebensrettende Technik, aber ehe sie allgemein angewendet werden konnte, mußten sie ihr Können weitergeben und andere die neuen Methoden beherrschen. Manchmal war das ein langwieriger Prozeß. Die Herzchirurgie beispielsweise war jetzt ziemlich weit verbreitet und für die meisten erreichbar, die ihrer dringend bedurften. Aber lange Zeit war nur eine Handvoll Chirurgen qualifiziert oder willens, sich daran zu wagen.
Außerdem erhob sich bei jeder Neuerung die Frage, ob sie gut, ob sie eine kluge Entwicklung war. Nicht jede Veränderung bedeutete Fortschritt. Oft war die Medizin falschen Spuren gefolgt, Theorien, die den Tatsachen widersprachen, und begeisterten und besessenen Einzelgängern, die manches wagten, was erst halb geklärt war, und andere durch ihr Beispiel verleiteten. Manchmal war es schwer, den mittleren Kurs zwischen Aufgeschlossenheit und vernünftiger Vorsicht einzuhalten. Im Three Counties Hospital mit seinen Vertretern der unerschütterlich konservativen und der fortschrittlichen Richtung - in beiden Lagern gab es gute Leute stand ein Mann wie O'Donnell ständig vor dem Problem, in jedem Augenblick genau zu wissen, wo und bei wem er seine Verbündeten suchen mußte.
Sein Gedankengang wurde durch die heranrollende Viscount abgebrochen, deren dröhnende Motoren die Stimmen um ihn herum übertönten. O'Donnell wartete, bis die Propeller standen und die Passagiere auszusteigen begannen. Als er Dr. Coleman unter ihnen erkannte, ging er die Treppe hinunter, um den neuen stellvertretenden Direktor der pathologischen Abteilung des Krankenhauses in der Halle zu empfangen.
David Coleman war überrascht, als er den Chef der Chirurgie, der sich groß und sonnengebräunt aus der Menschenmenge heraushob, mit ausgestreckter Hand auf sich warten sah. O'Donnell sagte: »Ich freue mich, Sie zu sehen, Dr. Coleman. Joe Pearson hatte keine Zeit, wir waren aber der Ansicht, daß jemand Sie hier abholen und willkommen heißen sollte.« Was O'Donnell nicht hinzufügte, war, daß Joe Pearson sich rundheraus geweigert hatte, und da Harry Tomaselli nicht in der Stadt war, hatte sich O'Donnell die Zeit genommen und war selbst hinausgefahren.
Während sie durch die dichte Menschenmenge in der heißen Halle gingen, beobachtete O'Donnell, wie Coleman sich umsah. Er gewann den Eindruck, daß der junge Pathologe sich schnell ein Urteil über seine Umgebung verschaffen wollte. Vielleicht war das seine Gewohnheit. Falls ja, war es eine gute. Zweifellos schnitt David Coleman bei dieser Prüfung günstig ab. Obwohl er einen dreistündigen Flug hinter sich hatte, war sein Gabardineanzug nicht zerdrückt. Sein gut geschnittenes Haar war sorgfältig gescheitelt und gebürstet, und er war sauber rasiert. Er trug keinen Hut, was ihn jünger als seine einunddreißig Jahre erscheinen ließ. Er war schlanker als O'Donnell, seine Züge waren klar geschnitten und gut geformt. Er hatte ein längliches Gesicht mit einem scharfen Kinn. Die Aktentasche unter seinem Arm gab ihm einen Akzent verläßlicher Nüchternheit. Das Bild eines jungen Wissenschaftlers, dachte O'Donnell. Er führte Coleman zur Gepäckausgabe. Dort wurde ein Rollkarren mit Koffern entladen, und sie schlossen sich der Gruppe Reisender, die mit Coleman eingetroffen waren, an.
O'Donnell sagte: »Das ist das beim Fliegen, was ich verabscheue.«
Coleman nickte und lächelte schwach. Es wirkte fast, als wolle er sagen: Wir sollten unsere Fähigkeiten nicht auf hohle Konversation vergeuden, meinen Sie nicht?
Das ist ein kühler Zeitgenosse, dachte O'Donnell. Wie bei seiner ersten Begegnung fielen ihm die stahlgrauen Augen auf, und er fragte sich, was man brauche, um hinter sie zu dringen. Coleman blieb jetzt unberührt in der Menge stehen und sah sich um. Fast wie auf Befehl trat ein Gepäckträger, ohne die anderen Reisenden zu beachten, auf ihn zu.
Zehn Minuten später, als O'Donnell seinen Buick durch den dichten Verkehr um den Flughafen steuerte und zur Stadt fuhr, sagte er: »Wir haben Sie im Roosevelt Hotel einquartiert. Es ist so komfortabel und ruhig, wie man nur wünschen kann. Ich glaube, unser Verwaltungsdirektor hat Ihnen wegen des Apartments geschrieben.«
»Ja, das tat er«, antwortete Coleman. »Ich würde das gern so schnell wie möglich in Ordnung bringen.«
»Sie werden keine Schwierigkeiten haben«, entgegnete O'Donnell und fügte hinzu: »Es steht Ihnen frei, sich ein oder zwei Tage Zeit zu nehmen, um eine geeignete Unterkunft zu suchen, ehe Sie Ihren Dienst im Krankenhaus übernehmen.«
»Danke, das ist wohl nicht nötig. Ich beabsichtige, morgen früh anzutreten.«
Coleman war höflich, aber entschieden. O'Donnell dachte: Das ist ein Mann, der sich genau überlegt, was er will, und es dann klar ausspricht. Er macht auch den Eindruck, als ob er sich nicht leicht etwas ausreden ließe. O'Donnell überraschte sich bei der Überlegung, wie Joe Pearson und David Coleman miteinander auskommen würden. Zunächst einmal sah es so aus, als würden sie aneinandergeraten. Aber das konnte man nie wissen. In Krankenhäusern wurden manchmal die unwahrscheinlichsten Freundschaften fürs Leben geschlossen.