Das wollte er nicht. So oder so, er mußte die Wahrheit wissen.
Es war ihm nicht leichtgefallen, mit Vivian zu sprechen und gleichzeitig zu versuchen, seine Befürchtungen geheimzuhalten. Gestern abend, als er allein bei ihr in ihrem Krankenzimmer saß - die andere Patientin war entlassen worden, und das zweite Bett stand leer -, hatte sie über seine offensichtlich düstere Stimmung gescherzt.
Vergnügt hatte sie die Trauben gegessen, die er ihr früher gebracht hatte, und gesagt: »Ich weiß, was dir fehlt. Du grämst dich, daß du jetzt an mich gebunden bist und nicht mehr aus einem Bett in das nächste hüpfen kannst.«
»Ich bin nie aus einem Bett in das nächste gehüpft«, antwortete er und versuchte, ebenso gutgelaunt zu erscheinen wie sie. »So leicht ist das gar nicht. Man hat schon seine Mühe damit.«
»Mit mir hattest du nicht sehr viel Mühe.«
»Mit dir war es etwas anderes. Da passierte es einfach.«
Dabei wurde sie nachdenklich. »Ja, ich weiß.« Und wieder fröhlich fuhr sie fort: »Nun, auf jeden Fall hat es keinen Zweck, wenn du glaubst, hier herauszukommen, Dr. Michael Seddons.
Ich habe nicht die Absicht, dich wieder loszulassen - niemals!«
Darauf küßte er sie, hielt sie fest umschlungen. Sie hob das Gesicht und flüsterte in sein Ohr. Ihr Haar lag weich gegen seine Wange und duftete. Leise sagte sie: »Noch etwas, Doktor. Seien Sie vorsichtig mit diesen Lernschwestern. Sie haben keine Moral.«
»Wirklich?« Er hielt sie von sich ab. »Und warum hat mir das niemand vorher gesagt?«
Sie trug ein dünnes, blaues Jäckchen, das vorn offen stand, darunter ein Nylonnachthemd von dem gleichen durchsichtigen Blau. Plötzlich überfiel es ihn atemberaubend, wie jung und schön sie war.
Vivian sah zur Tür. Sie war geschlossen. Sie sagte: »Sie haben heute hier auf der Station sehr viel zu tun. Ich weiß es, weil Sie es mir sagten. Wahrscheinlich kommt erst in einer Stunde wieder jemand ins Zimmer.«
Einen Augenblick war er schockiert. Dann lachte er und verliebte sich wieder Hals über Kopf in ihre ehrliche und einfache Offenheit. Er sagte: »Meinst du hier? Jetzt?«
»Warum nicht?«
»Wenn jemand kommt, werde ich aus dem Hospital hinausgeworfen.«
Leise sagte sie: »Davor hast du neulich abend nicht so viel Angst gehabt.« Ihre Fingerspitzen glitten leicht über sein Gesicht. Impulsiv beugte er sich vor und küßte sie auf den Hals. Als seine Lippen weiter herunterglitten, hörte er, wie sich ihr Atem beschleunigte, und spürte, wie ihre Finger sich in seine Schulter krallten.
Einen Augenblick war er versucht, dann siegte seine Vernunft. Er legte seine Arme um sie. Zärtlich murmelte er: »Wenn das alles vorüber ist, Vivian, Liebling, können wir wirklich allein sein. Und noch wichtiger, wir haben dann so viel Zeit, wie wir uns wünschen.«
Das war gestern gewesen. Heute nachmittag würde Lucy in einem Operationsraum die Probeexcision vornehmen. Mike Seddons sah auf seine Uhr. Es war zwei Uhr dreißig. Dem Operationsplan zufolge mußten sie jetzt beginnen. Wenn die Pathologie schnell arbeitete, konnte morgen das Ergebnis vorliegen. Mit einer leidenschaftlichen Inbrunst, die ebenso widerspruchsvoll wie auffällig war, betete er zu seiner eigenen Überraschung: O Gott, bitte, Gott, laß ihn gutartig sein.
Der Narkosearzt nickte. »Von uns aus ist es soweit, Lucy.«
Dr. Lucy Grainger kam um das Kopfende des Operationstisches herum. Sie hatte schon die Handschuhe und den Operationskittel an. Zu Vivian herunterlächelnd sagte sie aufmunternd: »Es dauert nicht lange, und Sie werden nicht das geringste spüren.«
Vivian versuchte, zuversichtlich zurückzulächeln. Sie wußte allerdings, daß es ihr nicht ganz gelang. Vielleicht, weil sie schon ein bißchen benommen war. Sie erinnerte sich, daß man ihr eine Beruhigungsspritze außer der Rückenmarksnarkose gegeben hatte, die der unteren Hälfte ihres Körpers jedes Gefühl nahm.
Lucy nickte dem ihr assistierenden Praktikanten zu. Er hob Vivians linkes Bein, und Lucy begann, die Tücher zu entfernen, die darum gewunden waren. Früher am Vormittag, ehe Vivian in den Operationsraum gebracht wurde, war ihr Bein rasiert, gründlich gebadet und mit Merthiolate bestrichen worden. Jetzt trug Lucy noch einmal das Desinfektionsmittel auf und bedeckte das Bein oberhalb und unterhalb des Knies mit frischen, sterilen Tüchern.
Auf der anderen Seite des Operationstisches hielt die Operationsschwester ein zusammengefaltetes grünes Laken bereit. Lucy faßte es an einer Seite, und sie breiteten es so über den Tisch, daß die Öffnung in dem Tuch unmittelbar über Vivians nacktem Knie lag. Der Narkosearzt griff danach und befestigte den oberen Saum des Tuches an einer Metallstange über Vivians Kopf, so daß sie von dem übrigen Operationsraum nichts mehr sehen konnte. Während er zu ihr hinuntersah, sagte er: »Bleiben Sie ganz ruhig, Miss Loburton. Es ist nicht viel anders, als ob man einen Zahn gezogen bekommt - nur sehr viel angenehmer.«
»Skalpell bitte.« Lucy streckte die Hand aus, und die Operationsschwester reichte ihr das Messer. Mit der Mitte der Klinge vollzog sie einen kurzen, kräftigen Schnitt, unmittelbar unter dem Knie, etwa vier Zentimeter lang. Sofort begann das Blut zu fließen.
»Arterienklemmen.« Die Operationsschwester hielt sie ihr schon hin, und Lucy klemmte zwei kleine Gefäße ab. »Wollen Sie bitte abbinden.« Sie trat zurück, damit der Praktikant hinter den beiden Klammern Schlingen um die Blutgefäße legen konnte.
»Jetzt schneiden wir durch das Periost.« Der Praktikant nickte, Lucy setzte das Skalpell, das sie schon vorher verwendet hatte, auf das dicke, faserige Gewebe der Knochenhaut und durchschnitt sie glatt.
»Fertig zum Sägen.« Die Operationsschwester reichte Lucy eine mechanische Stryker-Säge. Hinter ihr hielt eine zweite Schwester das elektrische Kabel von dem Operationstisch ab.
Wieder erklärte Lucy dem Praktikanten: »Wir werden eine keilförmige Probe des Knochens herausnehmen. Etwa einen halben bis dreiviertel Zoll lang. Das sollte genügen.«
Sie sah zu den Röntgenfilmen hinüber, die vor einem Leuchtschirm an der Wand hingen. »Wir müssen uns natürlich vergewissern, daß wir auch in den Tumor hineinkommen und nicht ein gesundes Knochenstück nehmen, das vorgedrückt wurde.«
Lucy schaltete die Säge ein und setzte sie zweimal an. Jedesmal, wenn die Zähne in den Knochen eindrangen, war ein gedämpftes, knirschendes Geräusch hörbar. Dann schaltete sie die Säge ab und reichte sie zurück. »So, ich denke, das genügt. Pinzette, bitte.«
Behutsam löste sie die Knochenprobe heraus und legte sie in ein kleines Gefäß mit Zenkerscher Lösung, die ihr die zweite Schwester hinhielt. Anschließend würde die Probe - bezeichnet und von einer Untersuchungsanforderung begleitet - in die Pathologie geschickt werden.
Der Narkosearzt fragte Vivian: »Nun, ist alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte er. »Die Probe ist herausgenommen. Es muß nur noch der Schnitt zugenäht werden.« Lucy nähte bereits das Periost mit einer laufenden Naht. Wenn das alles wäre, wie einfach wäre es dann, dachte sie dabei. Aber der Eingriff war lediglich ein Probeexcision zur Untersuchung. Ihre nächste Maßnahme hing von Joe Pearsons Urteil über die Knochenprobe ab, die sie ihm hinunterschickte.
Der Gedanke an Joe Pearson erinnerte Lucy an etwas, das sie gerade von Kent O'Donnell erfahren hatte: Heute war der Tag, an dem der neue zweite Pathologe des Krankenhauses in Burlington ankommen sollte. Sie hoffte, daß mit dem neuen Mann alles glatt gehen würde. In O'Donnells Interesse ebensosehr wie aus vielen anderen Gründen.