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Lucy respektierte die Bemühungen des Chefs der Chirurgie, Korrekturen im Krankenhaus ohne großes Aufsehen durchzusetzen, obwohl sie aus eigener Beobachtung wußte, daß O'Donnell einer Auseinandersetzung niemals auswich, wenn es wirklich not wendig war, frontal vorzugehen. Jetzt bin ich wieder dabei, dachte sie. Ich denke an Kent O'Donnell. Es war seltsam, wie sich gerade in letzter Zeit ihre Gedanken ständig ihm zuwandten. Vielleicht geschah es infolge ihrer Nähe bei der Arbeit. Die Tage waren selten, an denen die beiden sich nicht irgendwann während der Zeit, in der operiert wurde, begegneten. Jetzt fand Lucy, daß sie sich fragte, wie bald er sie wieder zum Abendessen einladen würde. Vielleicht konnte sie selbst in ihrem eigenen Appartement eine kleine Gesellschaft veranstalten. Es gab ein paar Leute, die sie schon seit einiger Zeit einladen wollte, und sie konnte Kent O'Donnell dazu bitten.

Lucy ließ den Praktikanten vor, um das subkutane Gewebe zu nähen. »Verwenden Sie Einzelnähte«, sagte sie zu ihm. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er arbeitete langsam, aber sorgfältig. Sie wußte, daß mancher der Chirurgen am Three Counties Hospital die Praktikanten sehr wenig tun ließ, wenn sie assistierten. Aber Lucy hatte nicht vergessen, wie oft sie an einem Operationstisch danebengestanden und gehofft hatte, wenigstens ein paar Knoten üben zu können.

Das war in Montreal gewesen, vor ganzen dreizehn Jahren, als sie ihre Assistentenzeit im Montreal General Hospital antrat und dann dort blieb, um sich auf orthopädische Chirurgie zu spezialisieren. Sie hatte oft darüber nachgedacht, welche Aussichten für einen Arzt bestanden, der sich für ein Spezialgebiet entschloß. Oft wurde dieser Entschluß von der Art der Fälle stark beeinflußt, die man in seiner Praktikantenzeit kennenlernte. Ihre eigenen Interessen, zuerst auf der medizinischen Fakultät bei der McGill University und später auf der medizinischen Fakultät der Toronto University waren häufig von einem Gebiet zu dem anderen gesprungen. Selbst bei ihrer Rückkehr nach Montreal war sie noch unentschlossen gewesen, ob sie sich überhaupt spezialisieren oder ob sie sich als praktische Ärztin niederlassen solle. Aber dann hatte der Zufall gewollt, daß sie eine Zeitlang unter der Aufsicht und Anleitung eines Chirurgen arbeitete, der wegen seiner Leidenschaft für die Orthopädie in dem Krankenhaus allgemein Old Bones genannt wurde.

Als Lucy ihn kennenlernte, war Old Bones Mitte Sechzig.

Seinem Auftreten und seiner Erscheinung nach war er einer der unangenehmsten Menschen, die sie kennengelernt hatte. Die meisten Lehrstätten haben ihre Primadonnen. In Old Bones schienen sich die schlimmsten Gepflogenheiten aller vereinigt zu haben. Regelmäßig beschimpfte er jeden in dem Krankenhaus - Praktikanten, Assistenten, seine eigenen Kollegen, Patienten - mit gleicher Unparteilichkeit. Im Operationsraum fluchte er, wenn er im geringsten gereizt wurde, auf Schwestern und Assistenten in Ausdrücken, die aus Kneipen und dem Hafenviertel stammten. Wenn ihm ein falsches Instrument gereicht wurde, schmiß er es an normalen Tagen nach dem Schuldigen, wenn er in nachsichtigerer Stimmung war, nur gegen die Wand.

Doch ungeachtet all dieser Auftritte war Old Bones ein Meister der Chirurgie. Der größte Teil seiner Arbeit galt der Beseitigung von Knochendeformationen bei verkrüppelten Kindern. Seine hervorragenden Erfolge hatten ihm Weltruf eingebracht. Aber er änderte niemals sein Verhalten und behandelte selbst Kinder, die seine Patienten waren, in der gleichen rauhen Art wie Erwachsene. Aber irgendwie schienen Kinder selten vor ihm Angst zu haben. Lucy hatte sich oft gefragt, ob der kindliche Instinkt nicht ein besserer Maßstab sei als die Vernunft der Erwachsenen.

Es war aber der Einfluß von Old Bones, der tatsächlich über Lucys Zukunft entschied. Als sie aus erster Hand gesehen hatte, was die orthopädische Chirurgie vollbringen konnte, wollte sie ihr Teil zu diesen Leistungen beitragen. Drei Jahre Assistentenzeit verbrachte sie im Montreal General Hospital und assistierte Old Bones, sooft sie dazu die Möglichkeit hatte. Sie eiferte ihm in allem nach, außer in seinen Manieren. Die änderte er nicht einmal Lucy gegenüber, obwohl sie gegen Ende ihres letzten Assistentenjahres stolz darauf war, daß sie erheblich seltener von ihm angeschrien wurde als andere.

Inzwischen hatte Lucy in ihrer ärztlichen Praxis eigene Erfolge aufzuweisen, und in Burlington war sie infolge der vielen Patienten, die von anderen Ärzten an sie überwiesen wurden, eines der beschäftigsten Mitglieder im Ärztestab des Three Counties Hospitals. Nur einmal war sie nach Montreal zurückgekehrt - der Anlaß lag jetzt zwei Jahre zurück -, um am Begräbnis von Old Bones teilzunehmen. Es wurde behauptet, es sei eine der größten Trauerfeiern für einen Arzt gewesen, die die Stadt je gesehen hatte. Praktisch jeder, den der alte Mann je in seinem Leben beschimpft hatte, war in die Kirche gekommen.

Ihre Gedanken kehrten zur Gegenwart zurück. Die Biopsie war fast abgeschlossen. Auf einen Wink von Lucy hin war der Praktikant dazu übergegangen, die Haut zu vernähen, wobei er wieder Einzelnähte setzte. Er legte gerade die letzte an. Lucy blickte zur Uhr über ihr an der Wand. Der ganze Eingriff hatte eine halbe Stunde gedauert. Es war drei Uhr.

Um sieben Minuten vor fünf stürmte ein sechzehnjähriger Krankenhaushelfer pfeifend und mit schwingenden Hüften in das serologische Labor. Das war die übliche Form, in der er dort erschien, weil er wußte, daß es Bannister, mit dem er auf ständigem Kriegsfuß stand, ärgerte. Wie immer sah der erste Laborant von seiner Arbeit auf und fauchte ihn ungehalten an: »Ich sage dir jetzt zum letztenmal, daß du dieses unerträgliche Benehmen unterlassen sollst, wenn du hier hereinkommst.«

»Da bin ich aber froh, daß es das letzte Mal ist.« Der Junge war nicht im geringsten beeindruckt. »Offen gesagt, geht mir Ihre ständige Nörgelei schon auf die Nerven.« Pfeifend trat er näher und balancierte ein Tablett mit Blutproben, die er in dem Labor für ambulante Patienten abgeholt hatte. »Wo soll ich das Blut hinstellen, Mr. Vampir?«

John Alexander feixte. Bannister dagegen fand es nicht komisch. »Du weißt, wo es hingehört, Dummkopf.« Er deutete auf eine Stelle auf einem der Labortische. »Stell es da hin.«

»Zu Befehl, Sir, Captain, Sir.« Umständlich stellte der Junge das Tablett ab und salutierte grollend. Mit einer Hüftschwenkung vollführte er eine Kehrtwendung und sang, während er zur Tür ging:

»Laß mich dorthin, wo die Virusse hausen, wo die Bakterien durch die Gegend sausen, wo der Vampir sein ganzes Leben verbringt und es aus allen Reagenzgläsern stinkt.«

Die Tür fiel zu, und seine Stimme verklang auf dem Gang.

Alexander lachte. »Lachen Sie nicht darüber«, sagte Bannister. »Er wird dann nur noch unverschämter.« Er trat zu dem Tisch und nahm die Blutproben auf. Dabei blätterte er gleichgültig die Anforderungen durch, die dabeilagen. Als er halb durch das Labor gegangen war, blieb er stehen.

»He! Da ist eine Blutprobe von einer Mrs. Alexander dabei. Ist das Ihre Frau?«

Alexander legte die Pipette hin, mit der er gerade arbeitete, und trat zu ihm. »Wahrscheinlich ja. Dr. Dornberger hat sie zu einem Sensibilitätstest hergeschickt.« Er nahm die Anweisung und las sie durch. »Ja, das ist Elizabeth.«

»Da steht sowohl Blutgruppenbestimmung als auch Sensibilitätstest«, sagte Bannister.

»Ich nehme an, Dr. Dornberger wollte sichergehen. Tatsächlich ist Elizabeth Rh-negativ.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Ich bin Rh-positiv.«

Großspurig und mit der Miene väterlicher Weisheit antwortete Bannister: »Nun, ja. Das führt in den seltensten Fällen zu Komplikationen.«

»Ja, ich weiß. Trotzdem möchte man sicher sein.«

»Nun, hier ist die Probe.« Bannister nahm das mit einem Schild »Alexander, Mrs. E.« versehene Reagenzglas und hielt es hoch. »Wollen Sie den Test selbst ausführen?«