»Ja gern, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Bannister hatte nie etwas dagegen, wenn ein anderer eine Arbeit übernahm, die ihm vielleicht selbst zugefallen wäre. Er antwortete: »Mir soll es recht sein.« Nach einem Blick auf die Uhr fügte er dann hinzu: »Aber heute geht es nicht mehr. Es ist Zeit, Feierabend zu machen.« Er setzte das Glas mit der Probe auf das Tablett zurück und reichte es Alexander. »Stellen Sie das alles bis morgen fort.«
Alexander nahm die Blutproben und stellte sie in den Kühlschrank des Labors. Als er den Kühlschrank geschlossen hatte, hielt er nachdenklich inne.
»Carl, ich wollte Sie etwas fragen.«
Bannister war schon mit Aufräumen beschäftigt. Er verließ das Labor gern um Punkt fünf. Ohne den Kopf zu wenden, fragte er: »Ja, was ist denn?«
»Die Blutsensibilitätstests, die wir hier vornehmen - ich habe mich darüber gewundert.«
»Worüber haben Sie sich gewundert?«
Alexander wählte seine Worte sorgfältig. Von Anfang an war er auf die Möglichkeit gefaßt gewesen, daß er seiner eigenen Collegeausbildung wegen bei Leuten von der Art Bannisters auf Ablehnung stoßen könne. Wie bisher, wollte er auch jetzt vermeiden, ihn zu reizen. »Wir führen hier nur zwei Sensibilitätstests durch - den einen in Salzlösung und den anderen in konzentriertem Protein.«
»Na und?«
»Nun«, sagte Alexander behutsam, »sind diese beiden Tests allein nicht etwas, überholt?«
Bannister war mit Aufräumen fertig. Er kam zu dem Mitteltisch herüber und wischte sich die Hände an einem Papierhandtuch ab. Scharf fragte er: »Wie kommen Sie darauf?«
Alexander überging den scharfen Ton. Die Sache war zu wichtig. Er erklärte: »In den meisten Labors wird heute ein dritter Test ausgeführt - ein indirekter Coombs - anschließend an den Test in der Salzlösung.«
»Ein was für ein Test?«
»Ein indirekter Coombs.«
»Was ist denn das?«
»Soll das ein Witz sein?« Im gleichen Augenblick, als Alexander die Worte aussprach, erkannte er, daß er einen taktischen Fehler begangen hatte. Aber er hatte impulsiv geantwortet, weil er der Meinung war, daß kein serologischer Laborant den indirekten Coombs nicht kennen könne.
Der erste Laborant fuhr auf. »Werden Sie nicht frech.«
Schnell versuchte Alexander den Schaden wiedergutzumachen und entgegnete: »Es tut mir leid. So hatte ich es nicht gemeint.«
Bannister ballte das Papierhandtuch zusammen und warf es in einen Abfalleimer. »So klang es aber.« Aggressiv beugte er sich vor. Auf seinem kahlen Kopf reflektierte das Licht der Glühlampe über ihm. »Hören Sie genau zu, mein Junge. In Ihrem eigenen Interesse will ich Ihnen etwas sagen. Sie kommen frisch von der Fachschule, und zu den Dingen, hinter die Sie noch nicht gekommen sind, gehört, daß manches, was Sie da gelernt haben, sich in der Praxis einfach nicht bewährt.«
»Es geht nicht nur um eine Theorie, Carl.« Alexander antwortete jetzt sehr nachdrücklich. Sein Fehler von vorhin schien ihm unwichtig. »Es ist nachgewiesen, daß manche Antikörper im Blut einer schwangeren Frau in der Salzlösung oder in konzentriertem Protein einfach nicht nachgewiesen werden können.«
»Und wie oft kommt das vor?« Bannisters Ton war anmaßend, als ob er die Antwort im voraus wisse. »Sehr selten.«
»Da haben wir es ja.«
»Aber oft genug, um den dritten Test wichtig zu machen.« John Alexander blieb hartnäckig. Er versuchte, Bannisters Ablehnung, etwas Neues zu lernen, zu überwinden. »Tatsächlich ist der Test ganz einfach. Nach dem Test in der Salzlösung nimmt man das gleiche Reagenzglas.«
Bannister unterbrach ihn. »Sparen Sie sich die Belehrung für ein andermal.« Er zog seinen Laborkittel aus und griff nach seiner Jacke hinter die Tür.
Obwohl Alexander wußte, daß es aussichtslos war, fuhr er fort: »Es ist nicht viel mehr Arbeit. Ich mache ihn gern selbst. Man benötigt nur Coombs-Serum dazu. Es ist richtig, daß die Tests dadurch etwas kostspieliger werden.«
Das war für Bannister vertrautes Gelände. Jetzt verstand er besser, worüber sie sprachen. »O ja«, sagte er sarkastisch, »das würde Pearson sehr gefallen. Für alles, was mehr kostet, ist er bestimmt sofort zu haben.«
»Aber verstehen Sie denn nicht? Ohne diesen Test gibt es keine unbedingte Gewißheit.« Alexander sprach nachdrücklich, ohne sich bewußt zu werden, daß er seine Stimme erhoben hatte. »Die beiden Tests, die hier ausgeführt werden, können zu einem negativen Ergebnis führen, obwohl das Blut der Mutter doch sensibilisiert und für das Kind gefährlich ist. Ohne ihn kann man ein Neugeborenes töten.«
»Nun, es ist nicht unsere Aufgabe, uns darüber den Kopf zu zerbrechen.« Bannister antwortete in seinem gröbsten Ton. Er schrie die Worte beinahe.
»Aber.«
»Da gibt es kein Aber. Pearson legt keinen Wert auf neue Methoden - besonders nicht, wenn sie mehr Geld kosten.« Bannister zögerte, und seine Aggressivität milderte sich etwas. Es war ihm bewußt, daß es eine Minute vor fünf war, und ihm lag daran, das Gespräch zu beenden und fortzugehen. »Passen Sie auf, mein Junge. Ich will Ihnen einen Rat geben. Wir sind keine Ärzte, und es wäre klug von Ihnen, wenn Sie aufhörten, sich als Arzt aufzuspielen. Wir sind Laboranten, und wir arbeiten hier so, wie es uns befohlen wird.«
»Soll das etwa heißen, daß ich nicht denken darf?« Nun wurde Alexander erregt. »Ich weiß nur, daß ich Wert darauf lege, daß der Test mit dem Blut meiner Frau in Salzlösung und in Protein und in Coombs-Serum durchgeführt wird. Sie interessiert das vielleicht nicht, aber für uns ist dieses Kind zufällig wichtig.«
Von der Tür sah der ältere Mann Alexander prüfend an. Er konnte jetzt klar erkennen, was er bisher nicht bemerkt hatte -der Junge da war ein Stänkerer. Und was mehr war, Stänkerer hatten die Gewohnheit, andere in Ungelegenheiten zu bringen. Vielleicht sollte man diesen eingebildeten Collegeschüler sich den Hals brechen lassen. Bannister sagte: »Ich habe Ihnen meine Meinung gesagt. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann gehen Sie selbst zu Pearson. Sagen Sie ihm ruhig, daß Sie mit der Art und Weise, in der hier gearbeitet wird, nicht zufrieden sind.«
Alexander sah den ersten Laboranten fest an. Dann antwortete er ruhig: »Vielleicht tue ich das auch.«
Bannister verzog den Mund. »Ganz wie Sie wollen. Aber vergessen Sie nicht: ich habe Sie gewarnt.«
Nach einem letzten Blick auf die Uhr ging er hinaus und ließ John Alexander allein im Labor zurück.
XII
Vor dem Haupteingang zum Three Counties Hospital blieb Dr. David Coleman stehen, um sich umzusehen. Es war ein paar Minuten nach acht an einem warmen Morgen Mitte August, und jetzt schon stand ein drückend heißer Tag zu erwarten. In diesem Augenblick herrschte vor dem Krankenhaus wenig Leben. Außer ihm waren die einzigen Menschen in Sicht ein Hauswart, der mit einem Schlauch einen Teil des Staubes vom gestrigen Tage von dem Vorplatz schwemmte, und eine Schwester mittleren Alters, die auf der anderen Straßenseite gerade aus einem Bus gestiegen war. Er nahm an, daß der Betrieb des Krankenhauses etwa erst in einer Stunde voll einsetzen würde.
David Coleman ließ seinen Blick über den Gebäudekomplex wandern, der das Three Counties Hospital bildete. Zweifellos konnte man den Erbauern des Krankenhauses nicht vorwerfen, daß sie für ästhetisches Beiwerk Geld vergeudet hätten. Die Architektur war nüchtern, zweckbestimmt, die kahle Ziegelfront wurde durch kein anderes Mauerwerk belebt. Sie bestand aus einer Aneinanderreihung konventioneller Rechtecke: Mauern mit Türen und Fenstern. Nur neben dem Haupteingang fand sich eine Unterbrechung. Dort gab eine einzige behauene Natursteinplatte bekannt: »Der Grundstein wurde von dem ehrenwerten Bürgermeister Hugo Stouting im April 1918 gelegt.« Während David Coleman die Stufen zum Eingang hinaufstieg, fragte er sich, was für eine Art Mensch dieser langvergessene Würdenträger gewesen sein mochte.