»Nein.« Alexander schüttelte den Kopf. »Dann muß es früher gewesen sein. Waren Sie einmal in Indiana, in New Richmond?«
»Ja«, antwortete Coleman überrascht, »ich bin dort geboren.«
Alexander strahlte. »Ich hätte mich natürlich an den Namen erinnern müssen. Dann muß Dr. Byron Coleman Ihr Vater gewesen sein.«
»Woher wissen Sie das?« Es war lange her, daß ein anderer als er selbst sich an den Namen seines Vaters erinnert hatte.
»Ich bin auch aus New Richmond«, antwortete Alexander, »und meine Frau auch.«
»Wirklich?« fragte Coleman, »haben wir uns dort gekannt?«
»Ich glaube nicht. Ich erinnere mich aber, Sie ein paarmal gesehen zu haben.« Im gesellschaftlichen Leben New Richmonds hatte John Alexander mehrere Stufen unter den Kreisen des Arztsohnes gestanden. Während ihm das durch den Kopf ging, ertönte ein >Kling< von der der Zentrifuge. Er unterbrach sich, um die geschleuderte Blutprobe herauszunehmen, und fuhr dann fort: »Mein Vater war ein Gemüsefarmer. Wir wohnten ein paar Meilen vor der Stadt. Vielleicht erinnern Sie sich aber an meine Frau, Elizabeth Johnson. Ihre Familie besaß die Eisenwarenhandlung.«
Coleman sagte nachdenklich: »Ja, ich glaube, ich erinnere mich wirklich.« In seinem Gedächtnis regte sich etwas. »War da nicht irgend etwas mit ihr. hatte sie nicht einen Unfall, oder so etwas?«
»Das stimmt«, antwortete John Alexander. »Ihr Vater kam bei einem Autounfall an der Eisenbahnkreuzung ums Leben. Elizabeth saß bei ihm im Wagen.«
»Ich erinnere mich, daß ich davon gehört habe.« David Colemans Gedanken liefen um Jahre zurück - zu dem Sprechzimmer seines Vaters, der als Landarzt so vielen Kranken geholfen hatte, bis seine eigene Gesundheit versagte. »Ich ging damals aufs College, aber mein Vater hat es mir später erzählt.«
»Elizabeth starb beinahe. Aber sie gaben ihr Bluttransfusionen, und sie kam durch. Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich je in einem Krankenhaus war. Ich habe dort fast eine Woche gelebt.« Alexander schwieg. Dann sagte er, immer noch über seine Entdeckung erfreut: »Wenn Sie zufällig mal einen Abend frei haben, Dr. Coleman. Ich bin überzeugt, meine Frau würde sich freuen, Sie zu sehen. Wir haben eine kleine Wohnung.« Er zögerte, weil er die Wahrheit spürte. Obwohl sie beide New Richmond verlassen hatten, lag immer noch eine gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen.
Auch Coleman war sich dessen bewußt. Sein Gehirn funkte eine Warnung: Sei vorsichtig im Umgang mit Untergebenen, selbst bei einem wie diesem hier. Nüchtern überlegte er: Das ist diesmal kein Snobismus, das ist nur eine Frage der Krankenhausdisziplin und des gesunden Menschenverstandes. Laut sagte er: »Ich werde zunächst einmal sehr viel Arbeit haben. Wir wollen es vorläufig lassen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
Ihm selbst klangen seine Worte falsch und hohl.
Er dachte: das hättest du freundlicher sagen können. Im Geist fügte er für sich die Bemerkung hinzu: du hast dich nicht geändert, mein Freund; du hast dich nicht im geringsten geändert.
Einen Augenblick lang wünschte Harry Tomaselli, daß Mrs. Straughan in ihre Küche zurückgehen und dort bleiben würde. Dann nahm er sich zusammen. Eine gute Küchenleiterin war ein kostbares Juwel. Und Mrs. Straughan war gut. Diese Tatsache war dem Verwaltungsdirektor klar bewußt.
Aber es gab Zeiten, zu denen er sich fragte, ob Hilda Straughan an das Three Counties Hospital je als eine Einheit, als ein Ganzes, dachte. Wenn er mit ihr sprach, gewann er meistens den Eindruck, daß die Küche das Herz des Krankenhauses bildete, um das die anderen, weniger wichtigen Organe sich herumgruppierten. Er berücksichtigte allerdings auch - Harry Tomaselli war in erster Linie ein gerecht denkender Mann -, daß man diese Haltung häufig bei Leuten findet, die ihre Aufgabe ernst nehmen. Und wenn das ein Mangel war, dann zog er ihn zweifellos der Trägheit und der Gleichgültigkeit vor. Ein anderer Punkt: ein guter Abteilungsleiter war immer bereit, für etwas, an das er glaubte, zu kämpfen und sich dafür einzusetzen, und Mrs. Straughan kämpfte und setzte sich mit jedem Kubikzentimeter ihrer fülligen Person für ihre Sache ein.
In diesem Augenblick füllte ihre umfangreiche Gestalt einen Sessel im Büro des Verwaltungsdirektors mehr als aus. Sie kämpfte verbissen. »Ich frage mich, ob Ihnen klar ist, Mr. T., wie ernst der Fall ist.« Mrs. Straughan verwendete stets den Anfangsbuchstaben des Familiennamens, wenn sie Leute ansprach, die sie kannte. Sie hatte auch die Gewohnheit, ihren eigenen Mann als >Mr. S.< zu bezeichnen.
»Ich glaube schon«, erwiderte Harry Tomaselli.
»Die Geschirrspülmaschinen, die ich habe, sind mindestens schon seit fünf Jahren veraltet. In jedem Jahr, das ich jetzt hier bin, wurde mir versichert: Im nächsten Jahr bekommen Sie neue. Und als das nächste Jahr kam, wo blieben meine Geschirrspülmaschinen? Sie wurden einfach um weitere zwölf Monate aufgeschoben. Das geht nicht, Mr. T., das geht einfach nicht.«
Mrs. Straughan verwendete immer das besitzanzeigende Fürwort >mein<, wenn sie sich auf Dinge bezog, die ihr unterstellt waren. Tomaselli hatte dagegen nichts einzuwenden. Wogegen er allerdings etwas einzuwenden hatte, das war Hilda Straughans mangelhafte Bereitschaft, auch anderer Leute Probleme zu berücksichtigen. Er fand sich damit ab, noch einmal das anzuführen, was er ihr erst vor ein oder zwei Wochen auseinandergesetzt hatte.
»Es steht außer Frage, Mrs. Straughan, daß die Geschirrspüler eines Tages erneuert werden. Mir ist das Problem, vor dem Sie in der Küche stehen, geläufig. Aber es handelt sich dabei um große, teure Maschinen. Erinnern Sie sich doch, nach der letzten Schätzung beliefen sich die Kosten allein für den Umbau der Heißwasseranlage auf knapp elftausend Dollars.«
Mrs. Straughan beugte sich über den Schreibtisch. Mit ihren gewaltigen Brüsten schob sie einen Ablegekorb beiseite. »Und je länger Sie warten, um so teurer wird es werden.«
»Das ist mir zu meinem Bedauern nur zu gut bekannt.« Die steigenden Kosten für alles, was das Krankenhaus brauchte, gehörten zu Tomasellis täglichem Brot. Er fügte hinzu: »Aber gerade in diesem Augenblick sind die Mittel des Krankenhauses für große Anschaffungen sehr begrenzt. Das hängt zum Teil natürlich mit dem geplanten Erweiterungsbau zusammen. Es ist einfach eine Frage der Zuteilung von Prioritäten, und manchen medizinischen Anlagen muß einfach der Vorrang eingeräumt werden.«
»Was nützen Ihnen medizinische Anlagen, wenn die Patienten keine sauberen Teller bekommen, von denen sie essen können.«
»Mrs. Straughan«, antwortete er fest, »ganz so schlimm ist die Lage nicht, und das wissen wir beide genau.«
»Es ist aber nicht sehr weit davon entfernt.« Die Küchenleiterin beugte sich vor, und der Aktenkorb erhielt einen weiteren Stoß. Harry Tomaselli wünschte im stillen, sie würde ihren Busen von seinem Schreibtisch nehmen. Sie fuhr fort: »In der letzten Zeit kamen verschiedentlich ganze Stöße von Tellern schmutzig aus meinen Maschinen heraus. Wir versuchen es zu kontrollieren, so gut wir können, aber wenn großer Andrang beim Essen herrscht, ist das einfach nicht immer möglich.«
»Ja«, antwortete er, »das glaube ich gern.«
»Was mich beunruhigt, ist die Gefahr einer Infektion, Mr. T. Unter unseren Angestellten sind in letzter Zeit viele Fälle von Darmgrippe aufgetreten, und natürlich gibt jeder dann der Küche die Schuld. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn da die Ursache läge.«
»Um das sicher zu wissen, brauchen wir erheblich mehr Beweise.« Harry Tomasellis Geduld begann sich zu erschöpfen. Mrs. Straughan war an einem ungewöhnlich arbeitsreichen Morgen zu ihm gekommen. Für den Nachmittag war eine Sitzung des Krankenhausausschusses angesetzt, und im Augenblick hatte er gerade mehrere dringliche Fragen vorliegen, die vorher geklärt werden mußten. In der Hoffnung, damit das Gespräch zu beenden, fragte er: »Wann hat die Pathologie die Geschirrspüler zum letztenmal auf Bakterien untersucht?«