»Was ist das für ein Fall?« Coleman schob den ersten Objektträger unter die Halteklammer und stellte das Okular ein.
»Eine Patientin Lucy Graingers. Lucy ist Chirurgin bei uns. Sie werden sie noch kennenlernen.« Pearson blickte in seine Notizen. »Der Fall betrifft ein neunzehnjähriges Mädchen, Vivian Loburton, eine unserer Lernschwestern. Sie hat eine Schwellung unter dem linken Knie, anhaltende Schmerzen. Die Röntgenuntersuchung ergab eine Mißbildung am Knochen. Die Schnitte stammen von der Probeexcision.«
Es waren acht Schnitte, und Coleman studierte sie nacheinander. Er wußte sofort, warum Pearson nach seiner Meinung fragte. Das war ein Grenzfall, so schwierig wie er nur sein konnte. Schließlich sagte er: »Meiner Meinung nach gutartig.«
»Ich halte es für bösartig«, entgegnete Pearson ruhig. »Für ein Osteosarkom.«
Wortlos nahm Coleman noch einmal den ersten Schnitt vor. Geduldig und sorgfältig untersuchte er ihn wieder, wiederholte das gleiche mit den sieben anderen. Bei seiner ersten Untersuchung hatte er die Möglichkeit eines Osteosarkoms erwogen. Jetzt tat er es wieder. Während er die rot und blau eingefärbten, durchscheinenden Schnitte studierte, die dem ausgebildeten Pathologen so vieles verrieten, prüfte er in Gedanken noch einmal die Für und Wider. Alle Schnitte zeigten umfangreiche Bildung von neuem Knochengewebe -osteoblastisches Wachstum mit Knorpeleinsprengseln dazwischen. Eine Verletzung mußte in Betracht gezogen werden.
Hatte die Verletzung einen Bruch verursacht? War die neue Knochenbildung das Ergebnis der Regeneration - des Versuchs des Körpers, sie zu heilen? Wenn ja, war das Wachstum zweifellos gutartig. Bestanden Anzeichen für eine Knochenmarkentzündung? Unter dem Mikroskop konnten sie leicht mit dem gefährlichen Osteosarkom verwechselt werden. Aber nein, es waren keine polymorphokernigen Leukozyten in der charakteristischen Weise in dem Mark zwischen den Knochenfasern vorhanden. Es lagen keine vordringenden Blutgefäße vor. Folglich hing die Entscheidung von der grundsätzlichen Untersuchung der Osteoblasten, der Knochenbildungszellen, ab. Das war die ewige Frage, vor der alle Pathologen standen. Stellte die Wucherung an einer Verletzung einen natürlichen Heilungsprozeß dar, um eine Lücke in der Abwehr des Körpers auszufüllen? Oder wucherte die Verletzung, weil ein Neoplasma vorhanden war, und war sie folglich bösartig? Bösartig oder gutartig? Man konnte sich so leicht irren, und alles, was man tun konnte, war, sich darauf zu beschränken, die vorliegenden Erscheinungen gegeneinander abzuwägen und dementsprechend zu urteilen.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht zustimmen«, sagte er höflich zu Pearson. »Ich möchte immer noch sagen, daß dieses Gewebe gutartig ist.«
Der alte Pathologe stand schweigend und nachdenklich da, offensichtlich wog er seine Ansicht gegen die des jüngeren Mannes ab. Nach einem Augenblick sagte er: »Sie werden aber wohl zugeben, daß man in diesem Fall zweifeln kann, in der einen, wie in der anderen Richtung.«
»Ja, das ist richtig.« Coleman wußte, daß es in Situationen, wie der vorliegenden, Anlaß zu Zweifeln gibt. Die Pathologie war keine exakte Wissenschaft. Sie kannte keine mathematischen Formeln, durch die man beweisen konnte, daß eine Ansicht falsch oder richtig war. Manchmal konnte man sein Urteil nur auf eine wohlerwogene Schätzung stützen. Man konnte es kluges Raten nennen. Er verstand Pearsons Zögern. Auf dem alten Mann lag die Verantwortung für die endgültige Entscheidung. Aber Entscheidungen dieser Art gehörten zur Arbeit des Pathologen. Vor ihnen gab es kein Ausweichen. Man mußte sie auf sich nehmen. Nach einer Pause fügte Coleman hinzu: »Falls Sie recht haben und es tatsächlich Knochenkrebs ist, bedeutet das natürlich Amputation.«
»Das weiß ich.« Die Worte kamen heftig, aber ohne Feindschaft. Coleman erkannte: Wie vernachlässigt die Abteilung in anderer Hinsicht auch sein mochte, Pearson war ein zu erfahrener Pathologe, um eine ehrliche abweichende Meinung zu verübeln. Außerdem wußten sie beide, wie trügerisch die Voraussetzungen bei jeder Diagnose waren. Jetzt ging Pearson durch das Zimmer. Als er sich umdrehte, sagte er grimmig: »Diese verfluchten Grenzfälle. Ich hasse sie. Immer wieder, wenn ich darauf stoße. Man muß eine Entscheidung treffen und weiß genau, daß sie falsch sein kann.«
Ruhig antwortete Coleman: »Gilt das nicht für einen großen Teil der Pathologie?«
»Aber wer weiß das sonst? Das ist doch der springende Punkt.« Pearsons Erwiderung war laut, fast leidenschaftlich, als ob der Jüngere eine empfindliche Stelle getroffen habe. »Die Öffentlichkeit weiß nichts - nichts ist gewisser als das. Sie sieht den Pathologen nur im Kino oder im Fernsehen, einen Wissenschaftler im weißen Mantel, der vor ein Mikroskop tritt, kurz hineinblickt und dann verkündet: >gutartig< oder >bösartig<. Das ist alles. Die Leute glauben, wenn man da hineinsieht« - er deutete auf das Mikroskop, mit dem sie untersuchten -, »hätte man auch ein Schema, das alles klar und übersichtlich einteilt wie bei einer Ziegelmauer. Aber sie haben keine Ahnung, daß es Fälle gibt, bei denen wir nicht im entferntesten sicher sein können.«
David Coleman hatte oft das gleiche gedacht, wenn er es auch nicht so eindeutig formuliert hatte. Ihm kam der Gedanke, daß dieser Ausbruch vielleicht durch etwas verursacht wurde, was der alte Mann schon lange in sich herumtrug. Schließlich war das eine Überlegung, die nur ein Pathologe wirklich verstehen konnte. Behutsam warf er dazwischen: »Sind Sie nicht der Meinung, daß wir meistens richtig urteilen?«
»Gewiß, das stimmt schon.« Pearson ging im Zimmer umher, während er sprach. Jetzt standen sie dicht beieinander. »Aber wie ist es mit den Fällen, bei denen wir uns irren? Was ist mit diesem Fall hier, wie? Wenn ich erkläre: bösartig, wird Lucy Grainger amputieren. Ihr bleibt gar keine andere Wahl. Und wenn ich mich irre, verliert ein neunzehnjähriges Mädchen umsonst ein Bein. Und andererseits: wenn es bösartig ist und keine Amputation vorgenommen wird, stirbt sie wahrscheinlich innerhalb von zwei Jahren.« Er schwieg. Nach einer Pause fügte er bitter hinzu: »Vielleicht stirbt sie auch so. Eine Amputation bedeutet nicht immer die Rettung.«
Damit offenbarte Pearson eine Seite seiner Persönlichkeit, die Coleman nicht bei ihm vermutet hatte: eine tiefe innere Anteilnahme an dem einzelnen Patienten. Selbstverständlich ließ sich dagegen nichts einwenden. Für den Pathologen war es gut, wenn er sich daran erinnerte, daß er es in vielen Fällen nicht lediglich mit Gewebestückchen zu tun hatte, sondern mit lebenden Menschen, deren Geschick er durch seine Entscheidung im Guten oder im Bösen beeinflußte. Wenn man diese Tatsache nicht vergaß, blieb man wachsam und gewissenhaft. Das heißt, solange man sorgfältig darauf achtete, daß man sein wissenschaftliches Urteil nicht durch seine Gefühle beeinflussen ließ. Coleman hatte schon einige der Zweifel, die Pearson aussprach, selbst erfahren mü ssen, obwohl er viel jünger war. Seinem Wesen gemäß, behielt er sie für sich selbst. Das besagte aber nicht, daß sie ihn weniger bedrückten. In dem Versuch, dem alten Mann bei seinen Überlegungen zu helfen, sagte er: »Wenn es bösartig ist, darf keine Zeit verloren werden.«
»Ich weiß.« Pearson dachte wieder angestrengt nach.
»Darf ich vorschlagen, daß wir uns einige frühere Fälle ansehen«, sagte Coleman. »Fälle mit den gleichen Symptomen?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das dauert zu lange.«
Taktvoll drängte Coleman: »Aber wenn wir das Krankheitsregister durchgehen.?« Er schwieg.
»Wir haben keins.« Das wurde leise gesagt, und zunächst fragte sich Coleman, ob er richtig gehört habe. Dann fuhr Pearson fort, fast als habe er Colemans ungläubige Überraschung erwartet: »Ich habe schon lange die Absicht, eins einzurichten... bin einfach nicht dazu gekommen.«