Nach Berücksichtigung all dieser Argumente entschloß Lucy sich, Vivian gleich über die Situation zu unterrichten. Wenn das Urteil später auf gutartig lautete, hatte sie zwar unnötigerweise Ängste ausgestanden - das war richtig -, das war aber immer noch besser als ein plötzlicher, vernichtender Schlag, der sie völlig unvorbereitet traf.
Dieses unmittelbare Problem wurde auch durch das Auftreten von Dr. Seddons vereinfacht. Der junge Praktikant war am vergangenen Abend zu Lucy gekommen und hatte ihr von seinem und Vivians Plan, zu heiraten, erzählt. Er hatte zugegeben, daß es zunächst seine Absicht gewesen war, im Hintergrund zu bleiben, daß er es sich jetzt aber überlegt habe. Lucy war froh darüber. Das bedeutete wenigstens, daß Vivian nicht ganz für sich allein stand und jemand hatte, bei dem sie Trost und Unterstützung finden konnte.
Zweifellos würde das Mädchen beides in hohem Maß nötig haben. Lucy hatte ihr so behutsam, wie sie konnte, den Verdacht auf Knochenkrebs mit all seinen tragischen Konsequenzen mitgeteilt. Aber wie behutsam man seine Worte auch wählte, tatsächlich bestand keine Möglichkeit, den Schlag wirklich zu mildern. Nun überlegte Lucy den nächsten Schritt, den sie unternehmen mußte: die Eltern des Mädchens unterrichten. Sie sah auf den Zettel in ihrer Hand mit einer Adresse in Salem, Oregon, die sie von Vivians Krankenkarte als die der nächsten Angehörigen abgeschrieben hatte. Sie hatte schon Vivians Zustimmung, ihre Eltern zu benachrichtigen. Jetzt stand Lucy vor der schweren Aufgabe, ihnen die Nachricht durch ein Ferngespräch so schonend wie möglich zu übermitteln.
Sie überlegte sich, welche Schwierigkeiten sich noch ergeben konnten. Vivian war minderjährig. Nach den Gesetzen war für eine Amputation die Zustimmung der Eltern erforderlich. Wenn die Eltern beabsichtigten, sofort mit dem Flugzeug nach Burlington zu kommen, konnte sie die schriftliche Genehmigung bei ihrer Ankunft erhalten. Wenn nicht, mußten sie überredet werden, ihre Einwilligung telegrafisch zu erteilen und Lucy das Recht einräumen, notfalls davon Gebrauch zu machen.
Sie sah auf ihre Uhr. Ihr ganzer Vormittag war mit Terminen in ihrer Sprechstunde in der Stadt ausgefüllt. Vielleicht war es das beste, gleich zu telefonieren, ehe sie das Krankenhaus verließ. Im zweiten Stock betrat sie das kleine Arbeitszimmer, das sie mit Gil Bartlett teilte. Es war kaum mehr als eine Kammer - so klein, daß sie es selten gleichzeitig benutzten. Im Augenblick war es reichlich besetzt - von Bartlett und Kent O'Donnell. Als O'Donnell sie sah, sagte er: »Verzeihen Sie, Lucy, ich gehe sofort. Für drei Personen ist dieses Zimmer nicht gebaut worden.«
»Das ist nicht nötig.« Sie drückte sich an den beiden Männern vorbei und setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch. »Ich muß nur schnell ein oder zwei Dinge erledigen. Dann gehe ich sofort wieder.«
»Ich rate Ihnen, zu bleiben.« Gil Bartletts Bart vollführte das übliche hüpfende Auf und Ab. Sein Ton war scherzhaft. »Kent und ich sind heute morgen außergewöhnlich tiefsinnig. Wir diskutieren gerade über die Zukunft der Chirurgie.«
»Es gibt Leute, die behaupten, daß sie keine Zukunft hat.« Lucy paßte ihren Ton dem Bartletts an. Sie hatte ihre Schreibtischschublade geöffnet und suchte nach klinischen Unterlagen, die sie für eine Untersuchung in der Stadt brauchte. »Es wird behauptet, daß alle Chirurgen aussterben werden, daß sie in ein paar Jahren so veraltet sind wie Wudu-Zauberer oder Medizinmänner.«
Bartlett bereitete nichts größeres Vergnügen als Gespräche dieser Art. »Und wer, wenn ich fragen darf, soll unsere blutrünstige Knochenschlosserei übernehmen?«
»Die ist dann überflüssig.« Lucy hatte die Aufzeichnungen gefunden und griff nach ihrer Aktentasche. »Alles wird durch Diagnose ersetzt. Die Medizin wird die Kräfte der Natur gegen die Mißfunktionen der Natur einsetzen. Man wird beweisen, daß unsere psychische Gesundheit die Wurzel aller organischen Erkrankungen bildet. Krebs wird durch die Psychiatrie und Gicht durch angewendete Psychologie verhindert. «Sie schloß den Reißverschluß ihrer Aktentasche und fügte in leichterem Ton hinzu: »Wie Sie wohl erraten haben, zitiere ich.«
»Ich kann das kaum erwarten.« Kent O'Donnell lächelte. Wie immer freute er sich über Lucys Nähe. War es töricht oder gar lächerlich von ihm, daß er sich davor scheute, ihr Verhältnis enger und vertrauter werden zu lassen? Was fürchtete er eigentlich? Vielleicht sollten sie noch einen Abend gemeinsam verbringen und dann die Ereignisse ihren Lauf nehmen lassen. Aber hier und jetzt, in Gil Bartletts Gesellschaft, war offensichtlich keine geeignete Gelegenheit, um sich mit ihr zu verabreden.
»Ich bezweifle, daß einer von uns das noch erleben wird.« Während Lucy sprach, summte leise das Telefon auf dem Tisch. Sie nahm den Hörer auf und meldete sich, reichte ihn dann Gil Bartlett. »Für Sie.«
»Ja, bitte«, meldete sich Bartlett.
»Dr. Bartlett?« Sie konnte die Frau am anderen Ende der Leitung verstehen.
»Am Apparat.«
»Hier ist Miss Rawson in der Notaufnahme. Ich habe eine Nachricht von Dr. Clifford.« Clifford war der erste chirurgische Assistent des Krankenhauses.
»Ja, bitte?«
»Er bittet Sie, herunterzukommen und sich auf eine Operation vorzubereiten, falls Sie können. Auf der Autobahn war ein Verkehrsunfall mit mehreren Schwerverletzten, darunter eine gefährliche Brustverletzung. Dr. Clifford bittet Sie, diesen Fall zu übernehmen.«
»Sagen Sie ihm, ich komme sofort.« Bartlett hängte den Hörer auf. »Tut mir leid, Lucy, wir müssen die Diskussion ein andermal weiterführen.« Er ging zur Tür, blieb noch einmal stehen. »Aber eines will ich Ihnen sagen. Ich glaube nicht, daß wir befürchten müssen, arbeitslos zu werden. Solange immer größere und schnellere Autos gebaut werden, gibt es für Chirurgen immer Arbeit.«
Er ging hinaus, und mit einem freundlichen Nicken für Lucy folgte ihm O'Donnell. Als sie allein war, wartete Lucy einen Augenblick und nahm dann wieder das Telefon ab. Als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Ich möchte ein Ferngespräch, bitte, mit einem Teilnehmer in Salem, Oregon.«
Mit der Übung langer Praxis suchte sich Kent O'Donnell seinen Weg durch das Hin und Her auf dem Gang und ging zu seinem eigenen Büro im Krankenhaus. Auch sein Vormittag war ausgefüllt. In weniger als einer halben Stunde mußte er in den Operationsräumen erscheinen, danach war eine Sitzung des medizinischen Ausschusses angesetzt, und später erwarteten ihn in der Stadt mehrere Patienten. Sein Programm erstreckte sich bis spät in den Nachmittag.
Auf seinem Weg dachte er wieder an Lucy Grainger. Als er sie vor wenigen Augenblicken sah, ihr nahe war, stiegen wieder die Fragen nach Lucy und sich selbst in ihm auf. Aber gleich bedrängten ihn auch die alten, bekannten Zweifel, das Gefühl, daß sie für eine ständige Verbindung vielleicht zu viele gemeinsame Interessen besaßen.
Er fragte sich, weshalb er in letzter Zeit so viel an Lucy dachte oder genaugenommen: an Frauen überhaupt. Vielleicht weil Anfang Vierzig von jeher ein Alter ist, in dem Männer ungeduldig sind. Dann lächelte er innerlich, als er sich erinnerte, daß es in seinem Leben selten Perioden gegeben hatte, in denen sich nicht eine gelegentliche Liebesaffäre der einen oder anderen Art ganz natürlich ergab. Jetzt lagen sie nur weiter auseinander. Und er war auch genötigt, dabei erheblich diskreter vorzugehen als in jüngeren Jahren.
Von Lucy sprangen seine Gedanken zu Denise Quantz über. Nach ihrer Einladung, sie in New York aufzusuchen, die sie an dem Abend ausgesprochen hatte, als er ihr in Eustace Swaynes Haus begegnete, hatte O'Donnell seine Teilnahme an dem chirurgischen Kongreß angemeldet. Jetzt fiel ihm ein, daß der Kongreß in der nächsten Woche stattfand. Wenn er Mrs. Quantz sehen wollte, mußte er bald eine Verabredung treffen. Als er in sein Büro kam, sagte ihm ein Blick auf die Uhr, daß er vor seiner ersten Operation noch zwanzig Minuten Zeit hatte. Er nahm das Telefon auf und redete sich dabei selbst ein, es sei immer richtig, Dinge zu erledigen, wenn man an sie dachte.