Roger McNeil, der pathologische Assistent, war überzeugt, daß er, ungeachtet, wie lange er Medizin praktizieren würde, sich niemals an die Obduktion von Kindern gewöhnen könne. Er hatte gerade eine abgeschlossen, und jetzt lag im Obduktionsraum der rot klaffende Körper eines vierjährigen Jungen offen und anklagend vor ihm. Der Anblick verfolgte McNeil jedesmal. Er wußte schon, daß er, wie immer in diesen Fällen, in der Nacht wenig Schlaf finden würde. Ständig würde das Bild wieder vor seinen Augen auftauchen - insbesondere, wenn er daran dachte und dagegen konnte er sich nicht wehren -, wie unnötig und sinnlos der vorliegende Todesfall war.
Er blickte auf und bemerkte, daß Mike Seddons ihn beobachtete. Der chirurgische Assistent sagte: »Das arme kleine Wurm.« Dann fügte er erbittert hinzu: »Wie dumm die Menschen doch sind.«
McNeil fragte: »Wartet der Polizist noch?«
Seddons nickte. »Ja, und die anderen auch.«
»Am besten benachrichtigen Sie Pearson.«
»Ja.« Im Nebenzimmer des Obduktionsraumes befand sich ein Telefon, und Seddons ging hinüber.
McNeil fragte sich, ob es Feigheit war, daß er dieser heiklen Aufgabe aus dem Wege ging. Aber der alte Mann mußte über den Fall ja doch unterrichtet werden. Also sollte er entscheiden, wer den Befund weitergab.
Seddons kam vom Telefon zurück. »Pearson war in der Serologie«, sagte er, »er kommt gleich herüber.«
Die beiden Männer warteten schweigend. Dann vernahmen sie Pearsons schlurfende Schritte, und der alte Mann trat ein. Er sah auf die Leiche, während McNeil die Einzelheiten des Falles darlegte. »Vor ein bis zwei Stunden ist das Kind vor dem Hause seiner Eltern von einem Auto angefahren worden. Es wurde mit einem Krankenwagen in das Krankenhaus gebracht, war aber bei der Ankunft schon tot. Daraufhin wurde eine Obduktion angeordnet.« McNeil informierte Pearson über seinen Befund.
Der alte Mann fragte ungläubig: »Und das war alles?«
»Das allein war die Todesursache«, antwortete McNeil. »Sonst nichts.«
Pearson trat näher an die Leiche, blieb dann stehen. Er kannte McNeil gut genug, um zu wissen, daß der Assistent keinen Fehler beging. Er sagte: »Dann müssen sie einfach danebengestanden. und zugesehen haben.«
Seddons warf ein: »Höchstwahrscheinlich wußte niemand, was geschah.«
Pearson nickte langsam. Seddons fragte sich, was der alte Mann wohl dachte. Dann fragte Pearson: »Wie alt war das Kind?«
»Vier«, antwortete McNeil. »Ein hübscher Junge.«
Sie blickten stumm auf den stillen, kleinen Körper auf dem Obduktionstisch. Die Augen waren geschlossen, das blonde, verwirrte Haar wieder an seine Stelle geschoben, nachdem das Gehirn entfernt worden war. Pearson schüttelte den Kopf, wendete sich dann zur Tür. Über die Schulter sagte er: »Also gut. Ich gehe hinauf und sage es ihnen.«
Die drei Personen, die sich in einem Wartezimmer des Krankenhauses aufhielten, sahen auf, als Pearson eintrat. Einer war ein uniformierter Beamter der städtischen Polizei. Neben ihm stand ein großer Mann mit geröteten Augen. Der dritte - ein grauer, kleiner Mann, mit einem großen Schnurrbart - saß niedergeschlagen für sich in einer Ecke.
Pearson stellte sich vor. Der Polizist sagte: »Ich bin Stevens vom fünften Revier, Sir.« Er zog ein Notizbuch und einen Bleistift.
Pearson fragte: »Waren Sie bei dem Unfall dabei?«
»Ich kam unmittelbar danach.« Er deutete auf den großen Mann. »Das ist der Vater des Jungen. Der andere ist der Fahrer des Wagens.«
Der graue Mann blickte auf. Flehend sagte er zu Pearson: »Er kam gerade herausgelaufen, direkt hinter dem Haus hervor. Ich bin kein rücksichtsloser Fahrer. Ich habe selbst Kinder. Ich fuhr nicht schnell. Ich stand fast, als es geschah.«
»Und ich sage, Sie sind ein verfluchter Lügner!« Die Stimme des Vaters schwankte vor Schmerz und Erbitterung. »Sie haben ihn getötet, und hoffentlich kommen Sie dafür ins Gefängnis.«
Pearson sagte beruhigend: »Einen Augenblick, bitte.« Es herrschte Schweigen. Die drei Männer sahen ihn an. Er deutete auf das Notizbuch des Polizisten. »Die Polizei erhält von uns den vollständigen Befund. Aber die wesentlichen Ergebnisse kann ich Ihnen jetzt schon sagen.« Er machte eine Pause. »Die Obduktion hat ergeben, daß der Junge nicht von dem Auto getötet wurde.«
Der Polizist sah ihn überrascht an. Der Vater sagte: »Aber ich war doch dabei. Ich sage Ihnen.«
»Ich wünschte, ich könnte es Ihnen schonender beibringen«, unterbrach Pearson ihn, »aber leider geht das nicht.« Er wendete sich unmittelbar an den Vater. »Der Stoß, den Ihr Junge erhielt, warf ihn zwar auf die Straße, und er erlitt eine leichte Gehirnerschütterung, die ihn bewußtlos machte. Er erlitt auch einen Nasenbeinbruch - nicht sehr schlimm, aber unglücklicherweise verursachte er starkes Nasenbluten.« Pearson wandte sich an den Polizisten. »Ich nehme an, das Kind wurde auf dem Rücken liegengelassen - so, wie es hingefallen war.«
»Ja, Sir«, antwortete der Polizist. »Das stimmt. Wir wollten ihn nicht bewegen, bis der Krankenwagen kam.«
»Und wie lange dauerte das?«
»Etwa zehn Minuten.«
Pearson nickte langsam. »Das war mehr als ausreichend. Fünf Minuten hätten genügt.« Er sagte: »Ich fürchte, das hat den Tod veranlaßt. Das Blut aus der Nase lief dem Jungen den Rachen hinunter. Er bekam keine Luft und sog das Blut in die Lungen ein. Daran ist er erstickt.«
Das Gesicht des Vaters verriet Entsetzen, Unglauben. Er sagte: »Sie meinen, wenn wir ihn nur umgedreht hätten.«
Pearson hob abwehrend seine Hände. »Ich meine, was ich sage. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen auf andere Weise mitteilen, aber ich kann nur die Wahrheit berichten: die ursprünglichen Verletzungen Ihres Sohnes waren geringfügig.«
Der Polizist fragte: »Dann war der Stoß von dem Wagen.?«
»Man kann natürlich nicht sicher sein, aber meine Meinung ist, daß er nur gestreift und verhältnismäßig leicht getroffen wurde.« Pearson deutete auf den grauen Mann, der jetzt dicht vor ihm stand. »Ich nehme an, daß dieser Mann hier die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, daß er langsam fuhr.«
»Heilige Mutter Gottes«, stieß der Vater aus, eine verzweifelte, gequälte Klage. Die Hände vor das Gesicht geschlagen schluchzte er. Nach einem Augenblick führte ihn der graue Mann zu einer Bank, den Arm um die Schultern des anderen gelegt, mit feuchten Augen.
Das Gesicht des Polizisten war weiß. Heiser sagte er: »Doktor, ich stand die ganze Zeit dabei. Ich hätte den Jungen umdrehen können. aber ich wußte es nicht.«
»Ich glaube nicht, daß Sie sich etwas vorzuwerfen haben.«
Der Mann schien ihn nicht zu hören. Wie im Trancezustand fuhr er fort: »Ich habe einen Kurs für Erste Hilfe absolviert und ein Abzeichen dafür bekommen. Immer wieder haben sie uns gelehrt, keinen Verletzten zu bewegen; was man auch täte, bewegen dürfe man sie nicht.«
»Ich weiß.« Pearson legte dem Polizisten seine Hand tröstend auf den Arm. Langsam sagte er: »Unglücklicherweise gibt es für diese Regel einige Ausnahmen. Eine davon ist, wenn ein Verletzter im Mund blutet.«
Auf dem Korridor im ersten Stock sah David Coleman auf dem Weg zum Essen Pearson aus dem Wartezimmer kommen. Zuerst fragte sich Coleman, ob der alte Pathologe krank sei. Er schien verstört zu sein, seine Umgebung nicht wahrzunehmen.
Dann erblickte Pearson ihn und trat auf ihn zu. Coleman blieb stehen.
»Ah ja. Dr. Coleman. Ich wollte Ihnen noch etwas sagen.« Coleman spürte, daß es Pearson aus irgendeinem Grund schwer fiel, seine Gedanken zu ordnen. Wie geistesabwesend streckte er seine Hand aus und ergriff den Aufschlag von Colemans weißem Arztmantel. Coleman bemerkte, daß die Hände des alten Mannes nervös und fahrig waren. Er machte sich von dem Griff unauffällig los.
»Ja, bitte, Dr. Pearson?«
»Was war es noch? Hatte etwas mit dem Labor zu tun.« Pearson schüttelte den Kopf. »Nun, jetzt ist es fort. Es wird mir wieder einfallen.«