»Neunzehn.« Lucy beobachtete Kent O'Donnells Gesicht. Ihr erschien es wie ein Spiegel, der seine Gedanken, seinen Charakter, sein Verständnis verriet. Sie dachte: Er besitzt Format, und er zeigt es unaufdringlich, weil es echt ist und zu ihm gehört. Das schien seinem Urteil über ihre eigenen Fähigkeiten, das er vor einigen Augenblicken ausgesprochen hatte, noch mehr Wärme und größere Bedeutung zu verleihen. Dann erkannte Lucy, plötzlich durch eine Offenbarung überwältigt, das, was sie sich in den vergangenen Monaten einzugestehen versagt hatte: daß sie diesen Mann liebte - tief und leidenschaftlich. Mit überraschender Klarheit wurde ihr bewußt, daß sie sich gegen diese Erkenntnis gewehrt hatte, vielleicht aus der instinktiven Furcht, verletzt zu werden. Aber, was auch geschah, jetzt konnte sie es sich nicht länger verhehlen. Für einen Augenblick wurde ihr bei dem Gedanken schwach. Sie fragte sich, ob ihr Gesicht sie verraten habe.
O'Donnell sagte entschuldigend: »Ich muß Sie jetzt verlassen, Lucy. Ich habe wieder einen arbeitsreichen Tag vor mir.« Er lächelte. »Aber ist das nicht ständig so?«
Mit schneller klopfendem Herzen und aufwallenden Gefühlen stand sie auf und ging zur Tür. Während O'Donnell sie öffnete, legte er seinen Arm um ihre Schultern. Es war eine zwanglose, freundschaftliche Geste, die auch jeder andere ihrer Kollegen machen konnte. Aber in diesem Augenblick wirkte sie elektrisierend, machte sie atemlos und verwirrt.
»Geben Sie mir Bescheid, Lucy, falls Probleme auftauchen«, sagte O'Donnell. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, gehe ich vielleicht heute zu Ihrer Patientin und sehe sie mir an.«
Sie riß ihre Gedanken zusammen und antwortete: »Das würde sie bestimmt freuen, und mich auch.« Als die Tür hinter ihr zufiel, schloß Lucy einen Augenblick die Augen, um ihre aufwallenden Gefühle zu beherrschen.
Die Qual des Wartens auf Vivians Diagnose übte auf Mike Seddons eine tiefgreifende Wirkung aus. Von Natur aus war er heiter und aufgeschlossen. In normalen Zeiten galt er als einer der lebhaftesten unter den jungen Ärzten des Three Counties Hospitals, und es war nicht ungewöhnlich, ihn im Brennpunkt einer lauten, ausgelassenen Gruppe in den Wohnräumen der Assistenzärzte anzutreffen. In den letzten Tagen hatte er jedoch meistens die Gesellschaft anderer gemieden. Das Wissen, was eine schicksalsvolle Entscheidung der Pathologie für Vivian und ihn selbst bedeutete, lastete schwer auf ihm.
Seine Empfindungen für Vivian waren unerschüttert. Wenn überhaupt, waren sie noch stärker geworden. Er hoffte, daß Vivians Eltern das in der Zeit, die er am vergangenen Abend nach der ersten Begegnung im Krankenhaus mit ihnen verbrachte, erkannt hatten. Wie zu erwarten, waren zunächst alle - Mr. und Mrs. Loburton, Vivian und er selbst - etwas verlegen gewesen. Ihre Unterhaltung war gezwungen und gelegentlich sogar förmlich. Selbst nachher schien es, daß die Loburtons der Begegnung mit dem künftigen Schwiegersohn, die unter anderen Umständen große Bedeutung gehabt hätte, nur eine zweitrangige Rolle hinter ihrer vordringlichen Sorge um Vivians Gesundheit zuerkannten. In gewissem Sinn spürte Mike Seddons, daß er hingenommen wurde, weil für irgend etwas anderes keine Zeit vorhanden war.
In dem Hotel hatten sich die Loburtons allerdings kurz mit ihm über Vivian und ihn selbst unterhalten. Henry Loburton, dessen große Gestalt den Polstersessel im Wohnzimmer ihrer Hotelsuite ausfüllte, fragte Mike Seddons nach dessen Zukunftsplänen, mehr aus Höflichkeit allerdings, wie Seddons vermutete, als aus echter Anteilnahme. Seddons schilderte darauf kurz seine Absicht, sich in Philadelphia als Chirurg niederzulassen, nachdem er seine Assistenzzeit im Three Counties Hospital beendet habe. Die Loburtons nickten höflich und ließen das Thema dann fallen.
Gewiß war von ihrer Seite kein Widerstand gegen die Heirat zu erwarten. »Vivian wußte immer, was sie wollte«, sagte Henry Loburton. »Das war auch so, als sie sich entschloß, Krankenschwester zu werden. Wir hatten unsere Zweifel, sie ließ sich aber nicht davon abbringen, und später blieb uns dann nicht mehr viel zu sagen übrig.«
Mike Seddons sprach die Hoffnung aus, daß sie Vivian nicht für zu jung hielten, um zu heiraten. Bei diesen Worten lächelte Angela Loburton. »Ich fürchte, daß wir aus diesem Grund kaum einen Einwand erheben können«, antwortete sie. »Denn, sehen Sie, ich selbst habe mit siebzehn geheiratet. Ich bin deswegen von zu Hause fortgelaufen.« Sie lächelte ihrem Mann zu. »Wir hatten zwar kein Geld, aber wir sind durchgekommen.«
Mit einem breiten Lächeln antwortete Seddons: »Nun, das haben wir dann gemeinsam. Jedenfalls, bis ich meine Praxis in Schwung gebracht habe.«
Das war gestern abend gewesen. Heute morgen, nach seinem Besuch bei Vivian, fühlte er sich aus irgendeinem Grund erleichtert und erlöst. Vielleicht hatte seine Depression schon zu lange gedauert, und seine natürliche Heiterkeit setzte sich wieder durch. Aber was auch der Grund war, er war wohlgemut und innerlich überzeugt, daß alles gut gehen werde. Dieses Gefühl beherrschte ihn auch jetzt im Obduktionsraum, wo er Roger McNeil bei der Obduktion einer älteren Frau assistierte, die in der vergangenen Nacht gestorben war. Es hatte ihn veranlaßt, McNeil witzige Anekdoten zu erzählen. Mike Seddons verfugte über ein ansehnliches Repertoire, und das war mit ein Grund für seinen Ruf als Witzbold.
Mitten in seiner Erzählung unterbrach er sich und fragte McNeiclass="underline" »Haben Sie eine Zigarette?«
Der pathologische Assistent deutete mit dem Kopf. Er sezierte gerade das Herz, das er eben aus dem Körper herausgenommen hatte.
Seddons ging durch den Raum, fand die Zigaretten in McNeils Jacke und zündete eine an. Während er zurückkam, fuhr er fort: »Sie sagte also zu dem Leichenbestatter: >Dafür danke ich Ihnen sehr, es muß aber doch sehr schwierig für Sie gewesen sein.< Und der Leichenbestatter antwortete: >Oh, so schwer war es gar nicht. Ich brauchte nur die Köpfe auszutauschen.««
So makaber der Scherz in dieser Umgebung auch klang, McNeil lachte laut auf. Er lachte immer noch, als die Tür des Obduktionsraumes geöffnet wurde und David Coleman eintrat.
»Dr. Seddons, wollen Sie bitte die Zigarette ausmachen.« Colemans Stimme schnitt kühl durch den Raum.
Mike Seddons sah sich um. Liebenswürdig antwortete er: »Oh, guten Morgen, Dr. Coleman. Ich habe Sie nicht gleich erkannt.«
»Die Zigarette, Dr. Seddons.« Colemans Ton war eisig, sein Blick hart.
Seddons begriff nicht sofort. »Wie?. Ah ja«, sagte er und sah sich nach einer Stelle um, an der er seine Zigarette ausdrücken konnte, und als er keinen geeigneten Platz fand, streckte er die Hand nach dem Obduktionstisch aus, auf dem die Leiche lag.
»Dort nicht.« Mit scharfer Stimme wies Coleman den chirurgischen Assistenten zurecht. Nach einem Augenblick ging Seddons durch den Raum, fand einen Aschenbecher und drückte die Zigarette darin zusammen.
»Dr. McNeil.«
»Bitte, Dr. Coleman?« antwortete Roger McNeil ruhig.
»Wollen Sie bitte das Gesicht bedecken.«
Voller Unbehagen, weil er wußte, was in Coleman vorging, griff McNeil nach einem Handtuch. Er hatte es schon vorher benutzt, und mehrere große Blutflecken waren darauf. Mit dem gleichen, keinen Widerspruch duldenden Ton sagte Coleman: »Ein sauberes Handtuch, bitte. Und tun Sie das gleiche mit dem Geschlecht.«
McNeil nickte Seddons zu, der zwei saubere Handtücher brachte. McNeil breitete eines behutsam über das Gesicht der toten Frau, mit dem anderen bedeckte er ihr Geschlecht.
Jetzt standen die beiden Assistenten vor Coleman. Beiden war ihre Verlegenheit anzumerken, beide ahnten, was als nächstes kommen mußte.
»Meine Herren, mir scheint, daß ich Ihnen etwas ins Bewußtsein zurückrufen muß.« David Coleman sprach ruhig -nicht ein Mal, seit er den Raum betrat, hatte er seine Stimme erhoben -, aber worauf er abzielte und die Autorität, die hinter seiner Forderung stand, waren unverkennbar. Nachdrücklich fuhr er fort: »Wenn wir eine Obduktion vornehmen, tun wir das mit der Erlaubnis der Familie des Verstorbenen. Ohne diese Erlaubnis gäbe es keine Obduktion. Ich nehme an, das ist Ihnen völlig klar.«