»Völlig klar«, bestätigte Seddons. McNeil nickte.
»Also gut.« Coleman blickte auf den Obduktionstisch, dann auf die beiden Assistenten. »Unser eigenes Ziel ist, unsere medizinischen Kenntnisse zu vervollkommnen. Die Familie des Verstorbenen ihrerseits vertraut uns den Körper in der Erwartung an, daß er mit Anstand, Respekt und Würde behandelt wird.« Hörbar stand das Schweigen nach seinen Worten im Raum. McNeil und Seddons standen völlig regungslos.
»Und so, meine Herren, werden wir ihn behandeln.« Coleman betonte seine Worte wieder: »Mit Anstand, Respekt und Würde.«
Er fuhr fort: »Bei allen Obduktionen werden Gesicht und Genitalien bedeckt, und in diesem Raum wird nicht geraucht. Was Ihr eigenes Verhalten und insbesondere das Erzählen von Witzen« - bei diesen Worten lief Mike Seddons dunkelrot an -»angeht, ich glaube, das darf ich in Zukunft Ihrem eigenen Urteil überlassen.«
Einen Augenblick sah Coleman jeden der beiden unmittelbar an. Dann: »Ich danke Ihnen, meine Herren. Wollen Sie bitte fortfahren.« Er nickte und ging hinaus.
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schwiegen beide noch ein paar Sekunden lang. Dann sagte Seddons leise: »Mir scheint, daß wir gerade nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen worden sind.«
Beschämt fügte McNeil hinzu: »Nicht ganz ohne Grund, glaube ich. Wie?«
Sobald sie es sich leisten könnten, beschloß Elizabeth, würde sie einen Staubsauger kaufen. Der altmodische Teppichkehrer, den sie besaß, nahm nur den oberflächlichsten Schmutz weg, aber das war auch alles. Sie schob ihn noch ein paarmal über den Teppich hin und her und musterte kritisch das Ergebnis. Nicht sehr befriedigend, aber es mußte genügen. Sie durfte nicht vergessen, heute abend mit John darüber zu sprechen.
Staubsauger waren nicht so schrecklich teuer, und eine monatliche Rate sollte auch noch zu tragen sein. Eine Schwierigkeit war allerdings, daß sie noch so viele Dinge brauchten. Immer standen sie vor dem Problem, was zuerst an die Reihe kommen sollte.
In gewisser Weise war sie geneigt, John recht zu geben. Es war alles schön und gut, von Opfern zu sprechen und auf Dinge zu verzichten, damit John Medizin studieren konnte. Aber wenn man es genau überlegte, war es schwer mit einem geringen Einkommen durchzukommen, wenn man sich erst einmal an einen bestimmten Lebensstandard gewöhnt hatte. Zum Beispiel Johns Gehalt im Krankenhaus. Es versetzte sie gewiß noch nicht in die höhere Einkommensschicht, aber es genügte, um erträglich zu leben, und ermöglichte ihnen, sich einen bescheidenen Luxus zu leisten, der vor ein paar Monaten noch unerreichbar gewesen war. Konnten sie auf diese Dinge jetzt wieder verzichten? Elizabeth glaubte es, wenn es ihr auch schwerfallen würde. Das Medizinstudium bedeutete vier weitere Jahre kämpfen, und selbst dann würden die Jahre als Praktikant und vielleicht noch die Zeit als Assistenzarzt folgen, falls John sich entschied, sich zu spezialisieren. War es den Aufwand wert? War es nicht vielleicht besser, wenn sie sich mit dem Glück begnügten, das sie gegenwärtig gefunden hatten, wenn sie sich mit ihrer gegenwärtigen Situation - trotz aller Bescheidenheit - abfanden?
Das war doch eine vernünftige Überlegung, oder nicht? Trotzdem war Elizabeth sich ihrer Sache irgendwie nicht sicher. Sollte sie John weiterdrängen, sein Ziel höherzustecken und um jeden Preis auf die Universität zu gehen? Dr. Coleman war offensichtlich dieser Ansicht. Was hatte er noch zu John gesagt? »Wenn Sie so empfinden, aber nicht Medizin studieren, solange Sie noch die Möglichkeit dazu haben, werden Sie es wahrscheinlich für den Rest Ihres Lebens bereuen.« Als Dr. Coleman diese Worte aussprach, hatten sie Elizabeth tief beeindruckt, und, wie sie vermutete, auch John. Als sie sich jetzt an sie erinnerte, kamen sie ihr bedeutungsvoller denn je vor. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Vielleicht war es das richtigste, heute abend die ganze Angelegenheit noch einmal durchzusprechen. Wenn sie sich davon überzeugte, daß John es wirklich wünschte, konnte sie ihn vielleicht zu einer Entscheidung drängen. Es wäre nicht das erste Mal, daß sich Elizabeth in einer Frage, die sie beide betraf, durchsetzte.
Elizabeth stellte den Teppichkehrer fort und ging rund durch die Wohnung, räumte auf und staubte ab. Sie sang während ihrer Arbeit und schob ihre ernsten Gedanken für den Augenblick von sich. Es war ein schöner Morgen. Die warme Augustsonne, die hell in das kleine, aber behagliche Wohnzimmer schien, zeigte die neuen Vorhänge, die sie gestern abend genäht und aufgehängt hatte, im besten Licht. Elizabeth blieb vor dem Mitteltisch stehen, um die Blumen in einer Vase neu zu ordnen. Sie entfernte zwei Blüten, die zu welken begannen, und war im Begriff, in die winzige Küche zu gehen, als der Schmerz sie überfiel. Er kam plötzlich, ohne Vorwarnung, traf sie wie ein sengendes Feuer und war schlimmer, viel schlimmer, ab am Tage vorher in der Krankenhauskantine. Elizabeth holte tief Atem, biß sich auf die Lippe, um einen Schrei zu unterdrücken, und ließ sich in einen Sessel sinken. Der Schmerz legte sich kurz, kehrte dann, wie ihr schien, noch stärker wieder. Er kam wie in einem Zyklus. Dann erkannte sie seine Bedeutung. Unwillkürlich sagte sie laut: »Nein, o nein.«
Trotz der Qual, die Elizabeth ergriff, wußte sie, daß sie schnell handeln mußte. Die Nummer des Krankenhauses stand auf der Liste neben dem Telefon. Der Apparat auf der anderen Seite des Zimmers wurde plötzlich das einzige Ziel ihrer Gedanken. Sie nutzte die Pause zwischen den Anfällen, griff nach dem Tisch als Stütze, zog sich aus dem Sessel und näherte sich mühevoll dem Apparat. Als sie gewählt hatte und sich das Krankenhaus meldete, sagte sie keuchend: »Dr. Dornberger. es ist dringend.«
Darauf folgte eine Pause, ehe er sich meldete: »Hier ist. Mrs. Alexander«, stöhnte Elizabeth mühsam. »Es hat angefangen. Mein Kind kommt. «
David Coleman klopfte an die Tür zu Dr. Pearsons Zimmer und trat ein. Er fand den Leiter der Pathologie hinter seinem Schreibtisch vor. Neben ihm stand Carl Bannister. Der Laborant zeigte ein finsteres Gesicht. Nach einem kurzen Blick vermied er vorsätzlich, Coleman anzusehen.
»Sie wollten mich sprechen, wurde mir gesagt.« Coleman kam aus der chirurgischen Abteilung, wo er einen Gefrierschnitt ausführte, als sein Name durch die Lautsprecheranlage aufgerufen wurde.
»Jawohl.« Pearsons Verhalten war kühl und förmlich. »Dr. Coleman, mir wurde von einem Mitarbeiter eine Beschwerde vorgebracht. Von Carl Bannister hier.«
»So?« Coleman zog die Augenbrauen hoch. Bannister sah unbewegt vor sich hin.
Pearson fuhr fort: »Ich habe gehört, daß Sie beide heute morgen eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten.«
»So würde ich es nicht gerade nennen.« Colemans Stimme klang sicher und gelassen.
»Und wie würden Sie es nennen?« Die Schärfe im Ton des alten Mannes war nicht zu verkennen.
Coleman antwortete geduldig: »Offen gesagt hatte ich nicht die Absicht, Ihnen die Angelegenheit vorzutragen. Aber da Bannister es für richtig hielt, ist es wohl das beste, wenn Sie den Vorfall im vollen Umfang erfahren.«
»Wenn Ihnen das nicht zu viele Umstände macht.«
Coleman ignorierte den Sarkasmus und fuhr fort: »Gestern abend teilte ich den beiden serologischen Laboranten mit, daß ich beabsichtige, gelegentliche Stichproben zur Überprüfung der Arbeit im Labor durchzuführen. Heute vormittag nahm ich eine solche Überprüfung vor.« Coleman sah Bannister an. »Ich hielt die Probe eines Patienten vor der Ablieferung in das serologische Labor auf und teilte sie. Dann fügte ich die zusätzliche Probe auf der Anforderungsliste hinzu, so daß sie als besonderer Test erschien. Als ich später die Ergebnisse kontrollierte, stellte ich fest, daß Mr. Bannister zwei verschiedene Testbefunde erzielt hatte, obwohl sie selbstverständlich hätten identisch sein müssen.« Er fügte hinzu: »Falls Sie wünschen, können wir die Einzelheiten aus den Aufzeichnungen im Labor sofort ersehen. «