»Entschuldigen Sie, Mrs. Yeo.«
»Ja, was gibt' s?«
»Die Aufnahme hat gerade angerufen.« Das Mädchen wandte sich an Dr. Dornberger. »Ihre Patientin ist gerade angekommen, Doktor, und befindet sich auf dem Weg nach oben. Die Aufnahme sagt, daß die Wehen schon ziemlich weit fortgeschritten sind.«
Vor der fahrbaren Trage, auf die Elizabeth aus dem Krankenwagen umgebettet worden war, konnte sie den jungen Praktikanten sehen, der sie bei ihrer Ankunft in Empfang genommen hatte. Er ging mit schnellen, aber ruhigen Schritten voraus, bahnte gelassen und methodisch durch die Menschengruppen in dem belebten Gang des Erdgeschosses den Weg. »Treten Sie zur Seite, bitte, ein eiliger Fall.« Seine Worte klangen ruhig, fast gelassen, aber sie wirkten sofort. Vorbeigehende blieben stehen, Gruppen traten zur Wand zurück, um die kleine Prozession - den Praktikanten, die Trage und die Schwester, die sie schob - vorbeizulassen. Vom anderen Ende des Ganges hatte der Fahrstuhlführer sie kommen sehen und den Fahrstuhl freigehalten.
»Warten Sie auf die nächste Fahrt, bitte. Wir brauchen den Fahrstuhl für einen dringenden Fall.« Folgsam traten die Wartenden beiseite, und der Wagen wurde hineingeschoben.
Reibungslos lief die vielgeübte Aufnahmeprozedur des Krankenhauses ab, um einen neuen Patienten in Pflege zu nehmen.
Etwas von der Ruhe übertrug sich auch auf Elizabeth. Obwohl sie jetzt die Schmerzen ständig spürte und sich in ihrem Leib ein neuer Druck ankündigte, konnte sie beides besser ertragen. Sie entdeckte, daß sie den fast unüberwindlichen Drang, laut herauszuschreien, besser unterdrücken konnte, wenn sie in ihre Unterlippe biß und sich in den Saum der Decke, die über sie gebreitet war, hineinkrallte. Sie wußte allerdings, daß die letzte Phase der |Geburt eingesetzt hatte. Unwillkürlich begann sie zu pressen und spürte zwischen ihren Oberschenkeln das herausdrängende Kind. Nun befanden sie sich im Fahrstuhl, die Türen glitten zu, und die Schwester hinter ihr beugte sich zu ihr und ergriff ihre Hand. »Jetzt dauert es nur noch ein oder zwei Minuten.« Dann wurden die Türen wieder geöffnet, und sie sah Dr. Dornberger, der schon auf sie wartete.
Als ob es eine Hoffnung gebe, daß er sie vorher falsch verstanden habe, nahm Dr. Pearson die beiden Telegramme wieder auf. Er las sie noch einmal, legte sie dann eins nach dem anderen wieder hin. »Bösartig! Gutartig! Und keiner von beiden hat einen Zweifel. Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben.«
»Nicht ganz«, entgegnete Coleman ruhig. »Wir haben fast drei Tage verloren.«
»Ich weiß, ich weiß!« Joe Pearson schlug mit einer schweren Faust in seine andere offene Hand. Unsicherheit umhüllte ihn wie ein Mantel. »Wenn es bösartig ist, muß das Bein schnell amputiert werden, sonst kann es zu spät sein.« Er drehte sich um und sah Coleman gerade an. »Aber das Mädchen ist neunzehn. Wäre sie fünfzig, würde ich sagen >bösartig< und mir weiter keine Sorgen machen. Aber neunzehn! - Und womöglich ein Bein verlieren, ohne daß es notwendig ist.«
Trotz seiner Ansichten über Pearson, trotz seiner eigenen Überzeugung, daß die Geschwulst, von der sie sprachen, gutartig und nicht bösartig war, spürte Coleman, wie seine Sympathie für Pearson wuchs. Der alte Mann trug in diesem Falle die letzte Verantwortung. Es war verständlich, daß er in Bedrängnis war. Die Entscheidung, die er treffen mußte, war ungewöhnlich schwer. Er sagte langsam: »Die Diagnose verlangt in einem derartigen Fall sehr großen Mut.«
Pearson loderte auf, als ob er ein brennendes Streichholz in einen leicht entzündlichen Stoff geworfen hätte. »Bleiben Sie mir doch mit Ihren Sekundanerklischees vom Halse. Ich tue das seit dreißig Jahren.« Er starrte Coleman mit funkelnden Augen an.
Die frühere Feindschaft war zurückgekehrt. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
»Ja?« Pearsons Antwort war zwar schroff, aber sein Ausdruck besänftigte sich, während er zuhörte. Dann sagte er: »Also gut, Lucy. Das beste ist, Sie kommen herunter. Ich warte hier auf Sie.« Er legte den Hörer zurück und starrte auf einen Punkt in der Mitte des Schreibtisches. Dann sagte er, ohne den Kopf zu heben, zu Coleman: »Lucy Grainger ist auf dem Wege hierher. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.«
Fast als ob er ihn nicht gehört habe, sagte Coleman nachdenklich: »Wissen Sie, es gibt vielleicht noch einen anderen Weg, der uns einen brauchbaren Hinweis liefern kann.«
»Welchen?« Pearson hob scharf den Kopf.
»Diese Röntgenaufnahmen.« Coleman sprach immer noch langsam, als überlegte er, während er sprach. »Sie wurden schon vor zwei Wochen aufgenommen. Wenn ein Tumor vorliegt, und wenn er sich weiterentwickelt hat, könnte eine neue Röntgenuntersuchung das zeigen.«
Ohne ein Wort beugte Pearson sich wieder vor und griff noch einmal nach dem Telefon. Das Knacken in der Leitung war zu hören. Dann sagte er: »Geben Sie mir Dr. Bell in der Röntgenabteilung.«
Während der alte Mann wartete, musterte er Coleman mit seltsamem Ausdruck. Dann bedeckte er die Sprechmuschel und sagte widerwillig anerkennend: »Das muß man Ihnen lassen. Sie denken nach - ständig.«
In dem Zimmer, das der Krankenhausstab scherzhaft als den >Schwitzkasten für werdende Väter< bezeichnete, drückte John Alexander eine halbgerauchte Zigarette in einem Aschenbecher aus. Er stand auf, klopfte auf den Ledersessel, in dem er die letzten anderthalb Stunden gesessen hatte, und von dem er jedesmal, wenn sich die Tür öffnete und jemand von dem Gang draußen hereinkam, aufgefahren war. Aber immer war die Nachricht für einen anderen bestimmt gewesen, und jetzt waren von den fünf Männern, die sich vor neunzig Minuten in dem Raum aufgehalten hatten, nur noch er und ein anderer übriggeblieben.
Er trat an das große Fenster, von dem man den Vorhof des Krankenhauses überblickte und über andere Gebäude hinweg auf das Industrieviertel Burlingtons sah, und stellte fest, daß Straßen und Dächer naß waren. Seit er hierhergekommen war, mußte es also geregnet haben, ohne daß er es bemerkt hatte. Jetzt bot die Umgebung des Krankenhauses den unerfreulichsten Anblick. Schmutzig und deprimierend erstreckten sich die Dächer vernachlässigter Häuser und billiger Wohnblocks bis zu den Fabriken mit ihren verrußten Schloten zu beiden Ufern des Flusses. Ab er auf die Straße vor dem Krankenhaus hinunterblickte, sah er eine Gruppe Kinder, die aus einer Seitengasse herausgelaufen kam und über die Pfützen, die auf dem unebenen, zerrissenen Pflaster des Bürgersteiges standen, hinweghüpfte oder sie umging. Während er die Kinder beobachtete, bemerkte er, wie ein größerer Junge stehenblieb und einem Kind hinter sich ein Bein stellte. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf. Sie fiel mit dem Gesicht in eine große Pfütze. Schmutziges Wasser spritzte um sie auf. Weinend erhob sie sich, wischte sich Schlamm aus dem Gesicht und versuchte, das Wasser aus ihrem verdreckten, durchnäßten Kleid zu wringen. Die anderen waren stehengeblieben, sprangen im Kreis um sie herum, ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen hingerissen vor Schadenfreude.
»So sind Kinder.« Die angewiderte Stimme sprach unmittelbar neben ihm, und erst jetzt bemerkte John, daß der andere Mann in dem Raum neben ihn ans Fenster getreten war. Er blickte zur Seite und sah eine große, spindeldürre Gestalt vor sich. Das Gesicht mit den hohlen Wangen war ungewöhnlich hager. Der Mann war unrasiert. Vermutlich war er zwanzig Jahre älter als John. Er trug eine fleckige Cordjacke über einem schmutzigen Overall. John nahm einen Dunst von Schmieröl und abgestandenem Bier wahr, der den Mann umgab.
»Kinder sind alle gleich.« Der Mann wendete sich vom Fenster ab und wühlte in seinen Taschen. Gleich darauf zog er Papier und Tabak heraus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er sah John scharf an, als er fragte: »Ihr erstes?«
»Eigentlich nicht. Es ist unser zweites. Unser erstes Baby starb.«