»Ja«, nickte Lucy. »Es ist Joes Gedanke, daß in der Zwischenzeit etwas« - sie zögerte, weil Vivian sie hören konnte - »etwas erkennbar geworden sein könnte.«
»Es wäre möglich.« Bell war zu dem Schwesternzimmer hinübergegangen und füllte eine Röntgenanforderung aus. Er fragte das Mädchen hinter dem Schreibtisch: »Welche Techniker sind frei?«
Sie sah in eine Liste. »Jane und Mr. Firban.«
»Dann lassen wir das am besten Firban machen. Wollen Sie ihn bitte herrufen.« Zu Lucy gewendet sagte er, als er zu dem Wagen zurück kam: »Firban ist einer unserer besten Techniker, und wir wollen ja gute Filme haben.« Er lächelte Lucy zu. »Dr. Pearson hat mich gebeten, mich persönlich um Ihren Fall zu kümmern. Darum bin ich hier. Jetzt wollen wir hier hineingehen.«
Mit Bells Hilfe schob die Schwester die Trage aus dem Vorraum in ein größeres Zimmer. Die Mitte wurde von einem Röntgentisch eingenommen, über dem das Gehäuse mit der Röntgenröhre an Schienen und Rollen schwebte. Ein kleinerer Teil des Raumes wurde durch eine dicke Glaswand abgetrennt, hinter der Vivian eine elektrische Schalttafel erkennen konnte. Fast gleich darauf kam ein kleiner, jüngerer Mann mit kurzgeschnittenem Haar in einem weißen Labormantel zu ihnen in den Raum. Seine Bewegungen waren knapp und flink, als ob er alles, was er tat, schnell, aber mit einem Minimum an Kraftaufwand tun wolle. Er sah Vivian an und wandte sich dann an Bell.
»Sie wünschen, Dr. Bell?«
»Ah, Karl, da sind Sie ja. Ich möchte, daß Sie diesen Fall über nehmen. Kennen Sie übrigens Dr. Grainger?« Und zu Lucy gewandt: »Das ist Karl Firban.«
»Ich glaube nicht, daß wir uns kennen.« Lucy streckte ihre Hand aus, und der Techniker ergriff sie.
»Sehr angenehm, Doktor.«
»Und unsere Patientin ist Vivian Loburton.« Bell lächelte auf die Trage hinunter. »Sie ist eine unserer Lernschwestern. Darum geben wir uns solche Mühe mit ihr.«
»Wie geht's, Vivian?« Firbans Gruß war knapp wie seine Bewegungen. Er schwenkte jetzt den Röntgentisch aus seiner senkrechten Stellung in die Waagrechte und sagte mit einer forschen Munterkeit: »Unseren Vorzugskunden stellen wir die Wahl zwischen Vista Vision und Cinemascope - alles in prächtigem Grau und Schwarz.« Er las die Anforderung, die Bell ihm hingelegt hatte. »Das linke Knie also. Besondere Wünsche, Doktor?«
»Wir brauchen ein paar gute, frontale, seitliche und weiche Aufnahmen. Und dann glaube ich, eine Schrägaufnahme des Kniegebietes von oben.« Bell schwieg, um nachzudenken. »Ich würde sagen, fünf oder sechs Filme, und dazu die entsprechenden Aufnahmen des anderen Knies.«
»Wünschen Sie Aufnahmen auf dreißig mal vierzig, um auch das angrenzende Schien- und Wadenbein auf den Film zu bekommen?«
Bell überlegte kurz und nickte dann. »Das ist ein guter Gedanke.« Zu Lucy sagte er: »Wenn eine Knochenmarkentzündung vorliegt, könnten weiter unten am Knochen Veränderungen an der Knochenhaut erkennbar sein.«
»Also gut, Doktor. In einer halben Stunde ist alles fertig.«
Das war ein höflicher Wink Firbans, der es vorzog, allein und ungestört zu arbeiten, und der Röntgenarzt respektierte seinen Wunsch.
»Wir trinken eben eine Tasse Kaffee und kommen wieder her.« Bell lächelte Vivian wieder zu. »Sie sind in guten Händen.« Dann folgte er Lucy hinaus.
»Also an die Arbeit.« Der Techniker winkte der Schwester, und gemeinsam halfen sie Vivian von der Trage auf den Röntgentisch hinüber. Im Vergleich mit der Auflage der Trage war die schwarze Ebonitplatte des Tisches hart und unnachgiebig.
»Nicht sehr bequem bei uns, wie?« Firban schob Vivian behutsam in die Stellung, die er wünschte, und ließ ihr linkes Knie unbedeckt. Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Man gewöhnt sich daran. Ich habe auf diesem Tisch schon oft geschlafen, wenn ich Nachtdienst hatte und nichts zu tun war.« Er nickte der Schwester zu, und das Mädchen trat hinter die Glaswand.
Vivian beobachtete den Techniker, der routiniert die Vorbereitungen für die Aufnahme traf. Mit flinken, ruckartigen Bewegungen nahm er eine Filmkassette aus einem in die Wand eingebauten Behälter und setzte sie mit geübtem Griff in einen Schlitten unter dem Röntgentisch ein, den er unter Vivians Knie schob. Dann steuerte er durch herabhängende Knopfschalter die schwere Röntgenröhre auf ihren Schienen und Rollen an der Decke über Vivians Knie und ließ sie bis dicht darüber herunter. Die Nadel auf dem Höhenanzeiger der Maschine zeigte vierzig Zoll an.
Wie fremdartig und unwirklich hier alles ist, dachte Vivian, so ganz anders als das übrige Krankenhaus. Als sich die schimmernde Anlage aus schwarzem Lack und blankem Chrom langsam und mit einem sanften Surren über ihr bewegte, kam sie ihr fast wie ein Ungeheuer vor. Hier herrschte eine wissenschaftliche und seelenlose Atmosphäre. Dieser Raum schien in gewisser Weise von der Medizin so weit entfernt zu sein wie der Maschinenraum eines Ozeanschiffes von dem hochgelegenen, sonnenbestrahlten Promenadendeck. Aber mit diesen geheimnisvollen und einschüchternden Geräten wurde ein großer Teil der wirklichen Forschungsarbeiten der Medizin verrichtet. Der Gedanke ängstigte sie einen Augenblick. Über all dem schwebte eine bedrohliche Unpersönlichkeit, an diesen Maschinen war so wenig Menschliches. Was sie auch aufdecken mochten, wurde ohne Wärme oder Freude, ohne Trauer oder Anteilnahme registriert und übermittelt. Gut oder schlecht, es spielte keine Rolle. Einen Augenblick erschien ihr die Öffnung vor der Röntgenröhre, die jetzt über ihr hing, wie das Auge des Gesetzes, unbeugsam, leidenschaftslos. Wie würde seine Entscheidung jetzt ausfallen? Durfte sie hoffen, oder wurde sie gar erlöst - oder würde es ein Verdammnisurteil fallen, gegen das es keine Berufung gab? Wieder sehnte sie Mike herbei. Sie nahm sich vor, ihn anzurufen, sobald sie wieder in ihr Zimmer kam.
Der Techniker hatte seine Vorbereitungen beendet. »So wird es wohl gehen.« Er warf einen letzten überprüfenden Blick auf den Apparat. »Ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie völlig ruhig bleiben müssen. Sie müssen wissen, wir sind die einzigen im Krankenhaus, die den Patienten versprechen können, daß sie nichts spüren, und es stimmt auch wirklich.«
Jetzt trat er hinter die zolldicke Glaswand, die die Röntgentechniker vor der Strahlung schützte. Aus dem Augenwinkel konnte Vivian erkennen, wie er, eine Liste in der Hand, hierhin und dorthin griff und Schalter einstellte.
Vor dem Schaltbrett dachte Firban: ein hübsches Mädchen. Was ihr wohl fehlt? Es muß etwas Ernstes sein, wenn Bell sich selbst um sie kümmert. Im allgemeinen interessiert sich der Chef nicht für Patienten, ehe die Filme vorliegen. Er überprüfte noch einmal das Schaltbrett. Bei dieser Arbeit lernte man bald, nichts zu riskieren. Die Einstellungen stimmten - vierundachtzig Kilovolt, zweihundert Milliampere, Belichtungszeit eine fünfzehnhundertstel Sekunde. Er drückte auf den Knopf, der die Drehanode der Röhre in Bewegung setzte, Dann rief er das übliche: »Nicht bewegen! Ganz stillhalten!« preßte mit dem Daumen auf den zweiten Knopf und wußte: was es auch zu sehen gab, war jetzt durch die durchdringenden Röntgenstrahlen festgehalten, um von anderen beurteilt zu werden.
Im Vorführraum der Röntgenabteilung waren die Jalousien heruntergelassen, um das Tageslicht auszuschalten. Dr. Bell und Lucy Grainger warteten. In ein paar Minuten mußten die Filme, die Firban aufgenommen hatte zum Vergleich mit den Aufnahmen von vor zwei Wochen, vorliegen. Der Techniker hatte die belichteten Negative bereits in die automatische Entwicklungsanlage eingeschoben, die in diesem Augenblick -sie sah wie eine etwas groß geratene Ölheizung aus - noch leise vor sich hinsummte. Dann begannen, einer nach dem anderen, die entwickelten Filme aus einem Schlitz am Vorderteil der Maschine herauszufallen.
Bell nahm jeden Film sofort auf und klammerte ihn vor einem Betrachter fest, der durch Leuchtröhren erhellt wurde. Vor einem zweiten Betrachter unmittelbar darüber hatte er schon die früheren Aufnahmen aufgehängt.