»Sind die Aufnahmen nicht schön geworden?« Der Ton des Technikers verriet einen Anflug von Stolz.
»Ausgezeichnet.« Die Antwort kam mechanisch. Bell betrachtete schon konzentriert die neuen Filme, verglich sie mit den entsprechenden Stellen auf den alten Aufnahmen. Dabei deutete er mit einem Bleistift auf diese Stellen, um sich bei seinen Überlegungen zu helfen und gleichzeitig Lucy seine Gedanken zu erläutern.
Nachdem sie beide Serien gründlich verglichen hatten, fragte Lucy: »Sehen Sie einen Unterschied? Ich fürchte, ich kann keinen erkennen. «
Der Röntgenarzt schüttelte den Kopf. »Hier liegen Anzeichen einer geringfügigen Reizung der Knochenhaut vor.« Er deutete mit dem Bleistift auf einen kleinen Unterschied in der grauen Schattierung auf zweien der Filme. »Das sind aber wahrscheinlich Folgen Ihrer Probeexcision. Sonst sind keine Veränderungen festzustellen, die irgendwelche Schlüsse zulassen.« Bell nahm seine dicke Brille ab und rieb sein rechtes Auge. Fast wie um Entschuldigung bittend, sagte er: »Es tut mir leid, Lucy, ich glaube, die Entscheidung liegt nach wie vor bei der Pathologie. Wollen Sie Joe Pearson benachrichtigen, oder soll ich es tun?« Er begann, die beiden Serien Filme von den Haltern abzunehmen.
»Ich tue es selbst«, antwortete Lucy ernst. »Ich gehe gleich zu Joe und sage es ihm.«
XVII
Die Stationsschwester Mrs. Wilding schob eine Strähne grauer Haare, die immer wieder unter ihrer gestärkten Haube hervorkroch, zurück und ging rasch vor John Alexander durch den Gang der Entbindungsstation im vierten Stock. Vor der fünften Tür blieb sie stehen und blickte hinein. Dann verkündete sie fröhlich: »Ein Besucher für Sie, Mrs. Alexander«, und ließ John in das kleine Krankenzimmer eintreten.
»Johnny, Liebster.« Elizabeth streckte ihre Arme aus. Sie zuckte unwillkürlich etwas zusammen, als sie dabei ihre Stellung veränderte. Er trat schnell zu ihr und küßte sie zärtlich. Einen Augenblick hielt sie ihn fest umschlungen. Er spürte ihre Wärme und unter seiner Hand das frische, saubere, leicht gestärkte Krankenhausnachthemd, das sie trug. Ihr Haar hatte einen Geruch, der an eine Mischung von Schweiß und Äther erinnerte. Es gemahnte ihn an das, was er nicht mit ihr hatte teilen können, etwas, das wie der fremde Hauch eines fernen Landes über ihr lag, von dem sie jetzt zurückgekehrt war. Einen Augenblick empfand er eine Spannung zwischen ihnen, als ob sie sich nach einer langen Trennung wiederfinden und von neuem kennenlernen müßten. Dann löste sich Elizabeth sanft von ihm.
»Ich muß schrecklich aussehen.«
»Du bist wunderschön«, versicherte er.
»Ich hatte gar keine Zeit mehr, etwas mitzunehmen.« Sie sah auf das formlose Krankenhaushemd hinunter. »Nicht mal ein Nachthemd oder einen Lippenstift.«
Mitfühlend sagte er: »Ich weiß.«
»Ich werde eine Liste aufstellen, dann kannst du mir alles bringen.«
Hinter ihnen hatte Schwester Wilding den Vorhang zugezogen, der das andere Bett in dem kleinen Zimmer abtrennte.
»So. Jetzt sind Sie so ungestört, wie Sie sein können.« Sie nahm ein Glas von Elizabeths Nachttisch und füllte es aus einem Krug mit Eiswasser.
»Ich komme gleich wieder, Mr. Alexander, dann können Sie Ihr Baby sehen.«
»Danke.« Beide lächelten der Schwester dankbar zu, als sie hinausging.
Nachdem die Tür geschlossen war, wandte Elizabeth sich John wieder zu. Ihr Ausdruck war gespannt, ihr Blick forschend. »Johnny, Liebster, du mußt es mir sagen: welche Chancen hat das Kind?«
»Nun, Liebste.« Er zögerte.
Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf die seine. »Johnny, ich will die Wahrheit wissen. Die Schwestern werden sie mir nicht sagen. Ich muß sie von dir erfahren.« Ihre Stimme schwankte. Er sah ihr an, daß ihr die Tränen nahe waren.
Leise antwortete er: »Es ist ungewiß.« Er wählte seine nächsten Worte vorsichtig. »Ich habe mit Dr. Dornberger gesprochen, die Aussichten stehen eins zu eins. Das Baby kann leben oder.« John vollendete seinen Satz nicht und schwieg.
Elizabeth ließ den Kopf in die Kissen zurücksinken. Sie blickte zur Decke. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie fragte: »Dann besteht nicht sehr viel Hoffnung?«
John erwog die Wirkung seiner nächsten Worte sorgfältig, ehe er antwortete. Vielleicht war es für sie beide besser, wenn sie sich jetzt schon auf die Möglichkeit gefaßt machten, daß das Kind starb, besser jedenfalls, als bei Elizabeth Hoffnungen zu wecken, die dann in ein oder zwei Tagen womöglich grausam enttäuscht wurden. Behutsam sagte er: »Es ist. schrecklich klein, verstehst du? Er wurde zwei Monate zu früh geboren.
Wenn irgendeine Infektion eintritt, wenn es auch nur das Geringste ist. Er ist eben nicht sehr kräftig.«
»Danke.« Elizabeth lag völlig regungslos. Sie sah ihn nicht an, sondern drückte nur fest seine Hand. Auf ihren Wangen standen Tränen, und John spürte, daß auch seine Augen feucht wurden. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben und sagte: »Elizabeth, Liebling, was auch geschieht. Wir sind noch jung. Wir haben noch so vieles vor uns.«
»Ich weiß.« Ihre Worte waren kaum hörbar. Er legte wieder seine Arme um sie, drückte ihren Kopf an sich und hörte sie zwischen unterdrücktem Schluchzen flüstern: »Aber zwei Babys. auf diese Weise.« Sie hob den Kopf und schrie verzweifelt auf: »Es ist nicht gerecht!«
Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Zärtlich flüsterte er: »Es ist schwer zu begreifen. aber wir haben immer noch uns.«
Er hielt sie noch eine Minute umschlungen. Ihr Schluchzen wurde ruhiger, dann spürte er, wie sie sich bewegte. Sie murmelte: »Taschentuch, bitte.« Er zog eines aus seiner Tasche und reichte es ihr.
»Es ist jetzt schon gut.« Sie wischte sich über die Augen. »Es ist manchmal nur so.«
Liebevoll erwiderte er: »Wenn es dir hilft, Liebling, dann weine soviel, wie du willst.«
Sie lächelte unsicher und gab ihm das Taschentuch zurück. »Ich fürchte, du kannst es nicht mehr gebrauchen.« Dann sagte sie in gefaßterem Ton: »Johnny, während ich hier lag, habe ich nachgedacht.«
»Worüber?«
»Ich möchte, daß du Medizin studierst.«
Vorsichtig protestierte er: »Aber, Liebling, darüber haben wir schon so oft.«
»Nein«, unterbrach Elizabeth ihn. Ihre Stimme war immer noch schwach, hatte aber einen entschiedenen Klang. »Ich habe es immer gewünscht, und jetzt sagt auch Dr. Coleman, du solltest es tun.«
»Hast du denn eine Vorstellung, was das kosten würde?«
»Ja, das habe ich. Ich kann mir ja wieder eine Stellung suchen.« Behutsam warf er ein: »Aber mit einem Baby?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann antwortete Elizabeth leise: »Vielleicht behalten wir es nicht.« Die Tür öffnete sich geräuschlos, und Schwester Wilding kam herein. Sie bemerkte Elizabeths rotgeränderte Augen und vermied taktvoll, sie anzusehen. Zu John sagte sie: »Wenn Sie wollen, Mr. Alexander, zeige ich Ihnen jetzt Ihr Baby.«
Nachdem Dr. Dornberger John Alexander auf der Pflegestation zurückgelassen hatte, ging er zu dem Säuglingszimmer.
Der Raum lag am Ende eines langen, hellen, in fröhlichen Pastelltönen gestrichenen Ganges. Er lag in einem Teil des Krankenhauses, der vor zwei Jahren renoviert worden war und in dem der neue Zug zur Geräumigkeit und Helligkeit sich durchgesetzt hatte. Auf seinem Weg durch den Gang vernahm Dornberger wie immer das Schreien der Säuglinge, dessen Ausdruck und Tonstärke von einem kräftigen, ungehaltenen Protest bis zum schwächlichen Vorsichhinwimmern reichte. Mehr aus Gewohnheit als aus einem unmittelbaren Anlaß blieb er stehen und sah durch die dicken Glasscheiben, die das Säuglingszimmer auf drei Seiten abschlossen. Der gleiche Andrang wie immer, ging es ihm durch den Kopf, als er bemerkte, daß die meisten Bettchen belegt waren, und ließ seinen Blick über die ordentlich ausgerichteten Reihen wandern.