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Paarweise verglichen sie die Röntgenaufnahmen. Lucy wies, wie Dr. Bell in der Röntgenabteilung, auf das Gebiet, wo nach der Probeexcision an der Knochenhaut Wachstum erkennbar war. Im übrigen, berichtete sie, habe sich nichts verändert. Schließlich rieb sich Pearson nachdenklich das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er sah Coleman an und sagte: »Mir scheint, Ihr Gedanke hat uns nicht geholfen.«

»Offenbar nicht.« Colemans Ton verriet nichts. Trotz aller Bemühungen standen sie vor dem gleichen Problem: sie waren entgegengesetzter Meinung. Er war gespannt, wie sich der alte Mann entscheiden würde.

»Der Versuch war es auf jeden Fall wert.« Pearson hatte eine eigentümliche Art, die geringste Anerkennung widerwillig klingen zu lassen, aber Coleman vermutete, daß er nur sprach, um Zeit zu gewinnen und seine Unschlüssigkeit zu verbergen.

Jetzt wandte sich der alte Mann an Lucy. Fast höhnisch sagte er: »Die Röntgenabteilung weiß also auch nichts?«

Sie antwortete ausdruckslos: »Man kann es so bezeichnen.« »Und damit bleibt es an mir hängen, an der Pathologie?«

»Ja, Joe«, sagte sie ruhig und wartete.

Zehn Sekunden lang herrschte Schweigen, ehe Pearson wieder sprach. Dann sagte er klar und selbstsicher: »Meine Diagnose lautet, daß Ihre Patientin einen bösartigen Tumor hat -einen Knochenkrebs, Lucy.«

Lucy sah ihn an. Sie fragte: »Ist das endgültig? Ganz eindeutig?«

»Ganz eindeutig.« Die Stimme des Pathologen verriet nicht eine Spur des Zweifels oder des Zögerns. Er fuhr fort: »Ich war von Anfang an davon überzeugt. Ich hoffte, das hier« - er deutete auf die Röntgenfilme - »würde uns eine zusätzliche Bestätigung geben.«

»Also gut.« Lucy nickte ergeben. Ihre Gedanken richteten sich auf die unmittelbaren nächsten Dinge.

Pearson fragte sachlich: »Wann werden Sie amputieren?«

»Morgen vormittag, denke ich.« Lucy nahm die Röntgenfilme an sich>und ging zur Tür. Sie sah auch Coleman an, als sie sagte: »Jetzt muß ich ihr wohl die Nachricht bringen.« Sie verzog das Gesicht etwas. »Das ist eine der schwersten Aufgaben.«

Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte Pearson sich an Coleman. Überraschend höflich sagte er: »Einer mußte es entscheiden. Ich bat Sie jetzt nicht um Ihre Ansicht, weil ich nicht wagen durfte, durchblicken zu lassen, daß Zweifel bestanden. Wenn Lucy Grainger das erfuhr, war sie verpflichtet, das Mädchen und seine Eltern darüber zu unterrichten. Und wenn sie das hören, werden sie die Operation hinauszögern wollen. Das wollen alle immer hinausschieben. Man kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen.« Er schwieg und fügte schließlich hinzu: »Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was eine Verzögerung bei einem Osteosarkom bedeutet.«

Coleman nickte. Er konnte Pearson keinen Vorwurf daraus machen, daß er eine Entscheidung gefällt hatte. Wie der alte Mann richtig sagte: Einer mußte es tun. Dennoch fragte er sich, ob die Amputation, die morgen vollzogen wurde, unerläßlich notwendig war oder nicht. Gewiß, am Ende würde man es erfahren. Wenn das amputierte Glied in das Labor herunterkam, würde sich bei der Sektion zeigen, ob die Diagnose >bösartig< richtig oder falsch war. Unglücklicherweise war es dann zu spät, der Patientin noch zu helfen, wenn sie auf einem Irrtum beruhte. Die Chirurgie hatte viele Methoden gelernt, Glieder zu amputieren, aber sie besaß kein Verfahren, sie wieder anzusetzen.

Das Nachmittagsflugzeug von Burlington landete kurz nach vier auf dem La Guardia-Flughafen, und vom Flugplatz nahm Kent O'Donnell ein Taxi nach Manhattan. Auf dem Weg in die Stadt lehnte er sich zurück. Zum erstenmal seit einigen Tagen fühlte er sich entspannt. Er bemühte sich immer, in den New Yorker Taxis abzuschalten, hauptsächlich, weil jeder Versuch, den Verkehr oder das Vorwärtskommen durch die Straßen zu beobachten, ihn im allgemeinen nervös werden ließ. Er hatte schon vor langem erkannt, daß hier Fatalismus die einzig richtige Einstellung war. Man fand sich mit der Möglichkeit eines Unfalls ab. Wenn er dann nicht eintrat, gratulierte man sich selbst zu seinem großen Glück.

Ein weiterer Grund für seine Entspannung war, daß er in den vergangenen Wochen mit höchster Anstrengung gearbeitet hatte, sowohl im Krankenhaus selbst als auch außerhalb. Seine Privatpraxis war gewachsen, und er hatte ein paar zusätzliche Operationen angesetzt, um für die vier Tage, die vor ihm lagen, vom Three Counties Hospital abwesend sein zu können. Ferner hatte er vor zwei Tagen eine Sondersitzung des Ärztestabes des Krankenhauses geleitet, auf der er mit Hilfe der von Harry Tomaselli ausgearbeiteten Unterlagen den Umfang der vorgeschlagenen Spenden der Ärzte für den Baufonds des Krankenhauses bekanntgegeben hatte. Seinen Erwartungen entsprechend, wurde reichlich dagegen gemurrt, aber er zweifelte nicht, daß die Verpflichtungserklärungen und anschließend auch das Geld eingehen würden.

Obwohl O'Donnell bewußt den lebhaften Straßenverkehr New Yorks nicht beachtete, sah er die vertraute, gezackte Silhouette Manhattans näher kommen. Sie überquerten die Queensborough Bridge. Die Strahlen der warmen Nachmittagssonne stießen wie Lanzen zwischen den schmutziggrünen Stahlträgern hindurch, und tief unten konnte er Welfare Island mit seinen finster und nüchtern zusammengedrängten städtischen Kliniken mitten im grauen East River liegen sehen. Er überlegte, daß ihm New York jedesmal, wenn er es wieder sah, häßlicher erschien und seine Unordnung und sein Schmutz auffälliger zutage traten. Und dennoch wurde das alles selbst dem Nicht-New Yorker nach einiger Zeit geläufig und vertraut. Es schien den Reisenden wie ein altvertrauter Freund dem für den Empfang des Gastes ein alter, abgetragener Anzug gut genug ist, ihn willkommen zu heißen. Er lächelte, hielt sich selbst sein unmedizinisches Denken vor - die Art Denken, die die Überwachung der Luftverschmutzung und die Beseitigung von Slums behinderte. Den Gegnern des Fortschritts ist Sentimentalität eine Hilfe und ein Trost, dachte er.

Das Taxi ließ die Brücke hinter sich und fuhr durch die 60th Street zur Madison Avenue, mühte sich dann einen Block weiter, bog nach Westen in die 59th Street ein. An der Ecke Seventh Avenue und Central-Park bog es wieder links in den dichten Verkehr ein und hielt vier Blocks weiter vor dem Park Sheraton Hotel.

O'Donnell trug sich in dem Hotel ein, anschließend duschte er und zog sich um. Aus seinem Koffer nahm er das Tagungsprogramm des chirurgischen Kongresses, den äußeren Anlaß für seine Reise nach New York. Drei der Vorträge wollte er sich anhören, zwei über Herzchirurgie und einen dritten über die Ersetzung erkrankter Arterien durch Verpflanzung. Aber der erste Vortrag war erst für elf am nächsten Vormittag angesetzt. Das ließ ihm morgen reichlich Zeit. Er sah auf seine Uhr. Es war kurz vor sieben, noch über eine Stunde, bis er mit Denise verabredet war. Er fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, schlenderte durch das Foyer zur Pyramid Lounge.

Es war die Cocktailstunde, und die Bar begann sich mit Gästen zu füllen, die später essen und ins Theater wollten, die meisten, vermutete er, wie er fremd in der Stadt. Ein Kellner führte ihn zu einem Tisch, und während er durch den Raum ging, bemerkte er eine anziehende Frau, die allein an einem Tisch saß und ihn interessiert betrachtete. Das war ihm nicht ungewohnt, und in der Vergangenheit hatten ähnliche Begegnungen gelegentlich zu willkommenen Erlebnissen geführt. Aber heute dachte er: bedaure, ich habe andere Pläne.

Der Kellner nahm seine Bestellung für einen Whisky Soda entgegen, und nachdem er den Drink erhalten hatte, trank er ihn langsam und ließ gelassen seine Gedanken wandern.

Solche Minuten, dachte er, gibt es in Burlington zu selten. Darum war es ganz gut, ein paar Tage herauszukommen. Es schärfte den Sinn für die Perspektive, ließ einen erkennen, daß manche Dinge der eigenen Umgebung aus einiger Distanz betrachtet sich als bedeutend weniger wichtig erwiesen, als man sie sonst einschätzte. Erst kürzlich war ihm die Vermutung gekommen, daß die Nähe zu dem Krankenhaus sein Denken in manchem aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er blickte sich um.