Seit er in die Bar gekommen war, hatte sie sich gefüllt. Kellner eilten umher, um die Getränke zu servieren, die drei Mixer in Gläser füllten. Eine oder zwei Gruppen der ersten Gäste gingen gerade. Wie viele dieser Leute, fragte er sich - der Mann und die Frau am Nebentisch etwa, der Kellner bei der Tür, die Vierergruppe, die gerade ging - hatten je etwas vom Three Counties Hospital gehört? Und falls doch, interessierte es sie wirklich, was dort vorging? Trotzdem schien ihm selbst das Krankenhaus mit seinen Problemen in letzter Zeit fast zum Lebensinhalt geworden zu sein. War das ein gutes Zeichen? War es für seinen Beruf gut? O'Donnell hatte immer Menschen mißtraut, die sich restlos hingaben. Sie neigten zur Besessenheit, ihre Urteilskraft wurde durch die Begeisterung für ihre Sache beeinträchtigt. Stand er in Gefahr, selbst so zu werden?
Beispielsweise das Problem Joe Pearson. War O'Donnell durch seine Nähe zu den Vorgängen hier fehlgeleitet worden? Für das Krankenhaus war es notwendig, daß ein zweiter Pathologe eingestellt wurde. Davon war er überzeugt. Aber hatte er sich dazu verleiten lassen, den alten Mann ungerecht zu kritisieren und die Mängel bei der Leitung seiner Abteilung -und in jeder Abteilung eines Krankenhauses bestanden Mängel -ungerechtfertigt scharf zu beurteilen? Zeitweise hatte O'Donnell schon erwogen, Pearson zum Rücktritt aufzufordern. War das etwa ein Symptom für ein unausgeglichenes Urteil, die voreilige Verdammung eines älteren Mannes durch einen viel jüngeren?
Selbstverständlich war das, bevor Eustace Swayne ihm klargemacht hatte, daß seine Viertelmillion-Dollar-Spende davon abhing, ob Pearson die Leitung der Pathologie beibehielt oder nicht. Über dies hatte Swayne seinen Beitrag noch nicht bestätigt. Aber O'Donnell glaubte, in seinem Urteil von Überlegungen dieser Art, so wichtig sie dem Anschein nach auch waren, unabhängig zu sein. Höchstwahrscheinlich konnte Joe Pearson dem Three Counties Hospital noch vieles geben. Seine reiche Erfahrung besaß zweifellos ihren Wert.
Es stimmt schon, entschied er, man dachte klarer, wenn man fort war - selbst wenn man sich in eine Cocktailbar setzen mußte, um in Ruhe zu überlegen.
Ein Kellner war an seinem Tisch stehengeblieben: »Noch einmal das gleiche, Sir?«
O'Donnell schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Der Kellner legte ihm seine Rechnung vor. O' Donnell fügte ein Trinkgeld hinzu und zeichnete sie ab.
Es war sieben Uhr dreißig, als er das Hotel verließ. Er hatte immer noch reichlich Zeit und ging über die 55th Street quer durch die Stadt bis zur Fifth Avenue. Dann winkte er einem Taxi und fuhr weiter hinaus zu der Adresse, die Denise ihm angegeben hatte.
Der Fahrer hielt nahe der 86th Street vor einem Apartmenthaus aus grauem Stein. O'Donnell bezahlte und trat ein.
Er wurde von einem uniformierten Portier respektvoll in der Halle begrüßt, der ihn nach seinem Namen fragte, dann in eine Liste sah und sagte: »Mrs. Quantz hat hinterlassen, Sie möchten bitte hinaufkommen, Sir.« Er deutete auf einen Fahrstuhl, neben dem ein Liftboy in der gleichen Uniform wie er stand. »Es ist das oberste Stockwerk, das zwanzigste, Sir. Ich werde Mrs. Quantz benachrichtigen, daß Sie kommen.«
Im zwanzigsten Stockwerk glitten die Fahrstuhltüren leise vor einem breiten, mit Teppichen ausgelegten Gang auf. Den größten Teil der einen Wand bedeckte ein Gobelin mit einer Jagdszene. Gegenüber befanden sich geschnitzte, eichene Doppeltüren. Eine von ihnen öffnete sich und ein Diener erschien. Er sagte: »Guten Abend, Sir. Mrs. Quantz läßt Sie in die Diele bitten. Sie wird sofort kommen.«
Er folgte dem Mann durch einen Gang und in einen Wohnraum, der fast so groß wie sein gesamtes Apartment in Burlington war. Er war in beigen, braunen und korallenfarbenen Tönen dekoriert. Eine Reihe Sessel ohne Armstützen war zu einem Sofa zusammengeschoben, das an beiden Seiten durch Walnußtische begrenzt wurde. Das reiche Dunkelbraun des Holzes hob sich wirkungsvoll von dem blassen Beige des schweren Teppichs ab. An den Wohnraum schloß sich eine gepflasterte Terrasse an, hinter der er die letzten Strahlen der Abendsonne wahrnahm.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?« fragte der Diener.
»Nein, danke«, antwortete er, »ich werde auf Mrs. Quantz warten.«
»Das brauchst du nicht«, sagte eine Stimme. Und da war Denise. Mit ausgestreckten Händen kam sie auf ihn zu. »Kent, mein Lieber, ich freue mich so, dich zu sehen.«
Einen Augenblick betrachtete er sie, dann sagte er langsam: »Ich mich auch.« Und wahrheitsgemäß fügte er hinzu: »Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht gewußt, wie sehr.«
Denise lächelte und beugte sich vor, um ihn leicht auf die Wange zu küssen. O'Donnell verspürte den plötzlichen Impuls, sie in seine Arme zu nehmen, unterdrückte ihn aber.
Sie war noch schöner, als er sich erinnerte, von einem lächelnden Strahlen, das ihm den Atem benahm. Sie trug ein kurzes Abendkleid mit weit schwingendem Rock aus jetschwarzer Spitze über einem schulterfreien Unterkleid aus schwarzer Seide. Der Hauch der Spitzen über ihren Schultern hob den sanften Schimmer ihrer weißen Haut darunter hervor. An ihrem Gürtel steckte eine einzelne rote Rose.
Sie ließ seine Hand los, und sie traten auf die Terrasse. Der Diener war ihnen mit einem silbernen Tablett mit Gläsern und einem Cocktailshaker vorausgegangen. Jetzt zog er sich unauffällig zurück.
»Die Martinis sind schon gemixt.« Denise sah O'Donnell fragend an. »Aber wenn du willst, kannst du etwas anderes trinken.«
»Martini ist ausgezeichnet.«
Denise füllte zwei Gläser und reichte ihm das eine. Sie lächelte mit einem warmen Leuchten in den Augen. Leise sagte sie: »Als mein persönliches Empfangskomitee heiße ich dich in New York willkommen.«
Er schlürfte an dem Martini, er war kühl und trocken. Unbeschwert antwortete er: »Ich danke dem Komitee für den Empfang.«
Für einen kurzen Augenblick hielt ihr Blick den seinen fest. Dann nahm sie ihn am Arm, führte ihn über die Terrasse auf die niedrige Säulenbalustrade zu, die sie abschloß.
»Wie geht es deinem Vater, Denise?« fragte O'Donnell.
»Danke, es geht ihm gut. Wie alle echten Konservativen hat er sich natürlich eingegraben, aber gesundheitlich geht es ihm gut. Manchmal glaube ich, er wird uns alle überleben.« Sie fügte hinzu: »Ich liebe ihn sehr.«
Sie waren stehengeblieben und blickten hinunter. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die warme, milde Spätsommerdämmerung, und die Lichter New Yorks leuchteten auf. Von der Straße unten drang das stetige und durchdringende Pulsieren des Abendverkehrs herauf, von dem plötzlichen Aufbrausen der Dieselbusse und dem Stakkato ungeduldiger Hupen synkopisiert. Gegenüber lag der Central-Park, dessen Umrisse im Schatten verschwanden. Nur die in das Dunkel hineingestreuten Straßenlampen ließen den Verlauf der hindurchführenden Straßen erkennen. Jenseits lösten sich die Straßen der West-Side im Dunkel zum Hudson River auf, und auf dem Fluß schlugen die Lichtpünktchen der Schiffslampen eine Brücke zwischen der Schwärze und den fernen Lichtern des Ufers von New Jersey. Oberhalb der Stadt konnte O'Donnell die George-Washington-Brücke erkennen, ihre hochgespannten Bogenlampen eine Kette heller, weißer Perlen, und darunter die Scheinwerfer der Wagen, die in mehreren Reihen nebeneinander über die Brücke aus der Stadt hinausströmten, Menschen, die nach Hause fahren, dachte O'Donnell.
Eine sanfte, warme Brise umstrich sie, und er spürte Denises Nähe. Leise sagte sie: »Das ist doch schön, nicht war? Selbst wenn man weiß, daß unter diesen Lichtern schlechte und abscheuliche Dinge geschehen. Es ist trotzdem schön. Ich liebe das alles, besonders um diese Tageszeit.«