»Hallo, Philippa«, sagte er, »es tut mir leid, daß wir Sie gestört haben.«
»Ich konnte nicht schlafen und habe noch gelesen.« Das Mädchen sah auf ein Buch in ihrer Hand. »Herrick. Haben Sie ihn je gelesen?«
»Ich glaube nicht«, antwortete O'Donnell. »Ich muß gestehen, daß mir das Studium nicht viel Zeit für Gedichte gelassen hat, und später bin ich auch nie mehr dazu gekommen.«
Philippa hob das Buch und öffnete es. »Hier ist etwas für dich, Mutter.« Mit sicherem Gefühl für Vers und Betonung und einer sympathischen Unbefangenheit las sie vor:
»Das sind des Lebens reichste Jahre, wenn jung und heiß die Pulse schlagen.
Einmal erschöpft von schlimmen und von schlimmsten Tagen bleibt nur vergangene Jugend zu bedauern.
Sei drum nicht scheu, verfolg das Wunderbare, solang' es dir gegeben, finde Liebe, denn sind verloren erst die frischen Triebe, kannst um Versäumtes du nur trauern.«
»Ich verstehe, was du damit sagen willst«, sagte Denise. Sie wandte sich zu O'Donnell. »Ich kann dir versichern, Kent, daß meine Kinder mich ständig bedrängen, wieder zu heiraten.«
»Ja, es ist einfach das beste für dich«, warf Philippe dazwischen. Sie legte das Buch hin.
»Sie tun es unter dem Vorwand, es sei das praktischste«, fuhr Denise fort. »Tatsächlich sind sie beide schrecklich sentimental.« Sie wandte sich zu Philippa. »Was würdest du sagen, wenn ich Dr. O'Donnell heirate?«
»Hat er dich darum gebeten?« Philippas Interesse war sofort wach. Ohne auf eine Antwort zu warten, rief sie aus: »Du tust es doch natürlich?«
»Das hängt von vielem ab, mein Kind«, antwortete Denise. »Selbstverständlich müssen erst ein paar Kleinigkeiten, wie meine Scheidung, geordnet werden.«
»Ach das. Es ist sehr unvernünftig von Daddy, daß er es von dir verlangt. Aber abgesehen davon, worauf braucht ihr zu warten?«
Sie sah O'Donnell offen an. »Warum lebt ihr nicht einfach zusammen. Dann liegt der Scheidungsgrund schon vor, und Mutter braucht nicht nach einem dieser scheußlichen Orte wie Reno zu fahren.«
»Es gibt Augenblicke«, sagte Denise, »an denen mir ernste Zweifel am Wert der fortschrittlichen Erziehung kommen. Nun ist es aber genug.« Sie trat auf Philippa zu. »Gute Nacht, mein Kind.«
»Oh, Mutter«, antwortete das Mädchen, »manchmal benimmst du dich geradezu vorsintflutlich.«
»Gute Nacht, mein Kind«, wiederholte Denise nachdrücklich.
Philippa wandte sich an O'Donnell. »Dann muß ich wohl gehen.«
Er antwortete: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen, Philippa.«
Das Mädchen kam zu ihm. Ungekünstelt sagte sie: »Wenn Sie doch mein Stiefvater werden, kann ich Sie ja ruhig küssen.«
Er beugte sich zu ihr, und sie küßte ihn auf die Lippen, trat dann zurück. Sie lächelte leicht. Dann sagte sie: »Sie gefallen mir.« Und warnend zu Denise: »Mutter, was du auch tust, laß dir den nicht entgehen.«
»Philippa!« Diesmal war der tadelnde Ton unverkennbar.
Philippa lachte und küßte ihre Mutter. Mit einem übermütigen Winken nahm sie ihren Gedichtband und ging.
O'Donnell lehnte sich an die Wand auf der Terrasse und lachte. In diesem Augenblick erschien ihm sein Junggesellendasein in Burlington unglaubwürdig leer und langweilig.
XVIII
Die Amputation von Vivians linkem Bein begann Punkt halb neun. Pünktlichkeit in den Operationsräumen gehörte zu den Dingen, auf denen Dr. O'Donnell bestanden hatte, als er Chef der Chirurgie im Three Counties Hospital wurde, und die meisten der Chirurgen fügten sich seiner Forderung.
Die Operation war nicht schwierig, und Lucy Grainger rechnete mit keinen besonderen Komplikationen. Sie plante, das Bein ziemlich weit über dem Knie im Oberteil des Oberschenkelknochens zu amputieren. Sie hatte auch erwogen, das Bein im Hüftgelenk abzunehmen, in der Meinung, daß damit bessere Aussichten bestanden, den sich vom Knie ausbreitenden bösartigen Zellen zuvorzukommen. Aber das hatte den Nachteil, daß es später außerordentlich schwierig war, an einem ungenügenden Stumpf eine Prothese anzubringen. Darum hatte sie sich entschlossen, einen Teil des Oberschenkels zu erhalten.
Sie hatte auch schon geplant, wie sie die Muskellappen schneiden wollte, die später den Stumpf ausreichend bedecken konnten. Tatsächlich hatte sie schon am Abend vorher in Gedanken die erforderlichen Schnitte vollzogen, wobei sie Vivian in dem Glauben ließ, daß sie nur eine weitere Routineuntersuchung vornähme. Das war, nachdem sie Vivian die Nachricht überbracht hatte. Natürlich war es ein ergreifendes und bedrückendes Gespräch gewesen. Zuerst hatte das Mädchen sich gefaßt gezeigt, aber war dann zusammengebrochen. Sie klammerte sich an Lucy, und ihr verzweifeltes Schluchzen verriet, daß sie die letzte, ungewisse Hoffnung verloren hatte. Obwohl Lucy durch ihre Ausbildung und ihre Tätigkeit darin geschult war, sich in solchen Augenblicken klinisch und unsentimental zu geben, fand sie sich selbst ungewöhnlich bewegt.
Die anschließende Unterhaltung mit den Eltern und mit dem jungen Dr. Seddons, der später zu ihr kam, war weniger persönlich, aber immer noch bedrückend gewesen. Lucy glaubte, es würde ihr nie gelingen, ihre Gefühle für ihre Patienten völlig zu beherrschen, wie manche andere das konnten, und mitunter mußte sie sich selbst zugeben, daß ihre äußerliche Kühle nur eine Pose, wenn auch eine notwendige, war. Allerdings war ihre Sachlichkeit hier im Operationsraum keine Pose. An diesem Ort war Sachlichkeit eine Notwendigkeit, und sie fand sich jetzt kühl und ohne persönliche Empfindungen dabei, die unmittelbaren Aufgaben der Operation zu überdenken.
Der Narkosearzt am Kopf des Operationstisches hatte schon sein Zeichen gegeben, daß sie beginnen könne. Bereits seit einigen Minuten hielt Lucys Assistent - heute einer der Praktikanten des Krankenhauses - das Bein, das amputiert werden mußte, hoch, damit das Blut soweit wie möglich in den Körper zurückfloß. Jetzt begann Lucy weit oben am Oberschenkel eine pneumatische Aderpresse anzulegen, ließ sie aber im Augenblick noch locker.
Ohne aufgefordert zu werden, reichte ihr die Operationsschwester eine Schere über den Tisch, und Lucy begann den Verband aufzuschneiden, der das Bein umhüllte, seit es am Abend vorher rasiert und anschließend zur Desinfektion mit Hexachlorophen bestrichen worden war. Der Verband fiel zu Boden, und die zweite Operationsschwester hob ihn auf.
Lucy sah auf die Uhr. Das Bein war jetzt fünf Minuten lang fast senkrecht hochgehalten worden, das Fleisch erschien bleich. Der Praktikant wechselte den Griff, und sie fragte ihn: »Strengt es die Arme an?«
Er lächelte hinter seiner Gesichtsmaske. »Ich möchte es nicht eine Stunde lang so halten.«
Der Narkosearzt war zu der Aderpresse getreten und sah Lucy an. Sie nickte und sagte: »Ja, bitte.« Der Narkosearzt begann Luft in den Gummischlauch zu pumpen und unterband damit die Blutzufuhr in das Bein. Als er fertig war, ließ der Praktikant das Bein sinken, bis es ausgestreckt auf dem Operationstisch lag. Die Operationsschwester und der Praktikant bedeckten die Patientin mit einem sterilen, grünen Laken, so daß nur das linke Bein frei blieb.
Dann begann Lucy mit den letzten Vorbereitungen und bestrich das Operationsfeld am Oberschenkel mit einer alkoholischen Lösung von Zephiran.
In dem Operationsraum waren heute Gäste anwesend - zwei Medizinstudenten von der Universität -, und Lucy winkte sie näher heran. Die Operationsschwester reichte ihr ein Messer, und Lucy ritzte mit der Spitze der Klinge in die Haut des freiliegenden Oberschenkels und erklärte dabei:
»Beachten Sie, daß ich die Umrisse der Muskellappen zunächst durch Kratzer markiere. Das gibt uns Anhaltspunkte.«
Jetzt begann sie tiefer zu schneiden, legte sofort die Muskelfascien unter der Haut und ihrer Fettgewebeschicht frei. »Es ist immer wichtig, den vorderen Lappen länger als den hinteren zu machen, damit die Nahtlinie später etwas nach rückwärts liegt. Auf diese Weise hat der Patient keine Narbe unmittelbar am Ende des Stumpfes. Eine Narbe an dieser Stelle kann sich später als außerordentlich schmerzhaft und empfindlich erweisen, wenn sie durch Gewicht belastet wird.«