Nun schnitt sie tief in das Fleisch. Die Umrisse beider Lappen wurden durch das Blut erkennbar, das hervorzusickern begann. Das Ergebnis war vorn und hinten, ähnlich zwei Hemdschößen, ein langer und ein kurzer Lappen, die zum Schluß zusammengezogen und an den Rändern sauber vernäht wurden.
Mit kurzen, scharfen Bewegungen begann Lucy mit dem Skalpell die Muskel zurück und nach oben zu schieben und legte die blutigrote Masse des darunterliegenden Gewebes bloß.
»Klemme, bitte.« Die Operationsschwester reichte ihr das Instrument. Lucy brachte es an, so daß es die gelösten Muskeln von der nächsten darunterliegenden Schicht zurückhielt. Sie winkte ihrem Assistenten, die Klemme zu halten, und schnitt tiefer durch die oberste Schicht des vierköpfigen Oberschenkelmuskel».
»Gleich werden wir die Hauptarterien freilegen. Ja. Hier haben wir das erste femorale Gefäß.« Während Lucy darauf deutete, beugten sich die beiden Medizinstudenten interessiert vor. Ruhig fuhr sie fort, das, was sie tat, zu erklären: »Wir wollen die Gefäße so hoch wie möglich freilegen, sie dann herunterziehen und abbinden, so daß sie sich möglichst weit von dem Stumpf zurückziehen.« Die Nadel, die die Operationsschwester gereicht hatte, fuhr herein und heraus. Lucy band die großen Gefäße zweimal ab, um sicherzugehen, daß sie gut abgedichtet waren und blieben. Jede spätere Blutung in diesem Gebiet konnte für den Patienten eine Katastrophe bedeuten. Dann streckte sie ihre Hand nach der Schere aus, nahm sie und durchtrennte die Hauptschlagader, die zum Unterteil des Gliedes führte. Der erste unwiderrufliche Schnitt der Amputation war damit geschehen.
Schnell wiederholte sie das gleiche an anderen Arterien und den Venen. Dann durchtrennte Lucy weitere Muskeln, griff herunter und legte den Nerv frei, der parallel nach unten verlief. Während ihre behandschuhten Hände prüfend darüber tasteten, regte sich Vivian plötzlich, und aller Augen richteten sich schnell auf den Narkosearzt am Kopfende des Tisches. Er nickte beruhigend. »Der Patientin geht es gut, keine Komplikationen.« Eine seiner Hände lag auf Vivians Wange. Sie war bleich, aber ihr Atem ging tief und regelmäßig. Ihre Augen standen offen, ohne etwas zu sehen. Ihr Kopf lag gerade weit zurück, nicht zur Seite geneigt, die Augenwinkel waren mit Wasser gefüllt, Tränen, die sie in der Bewußtlosigkeit geweint hatte.
»Mit dem Nerv verfahren wir in gleicherweise wie mit den Arterien und den Venen, ziehen ihn also soweit wie möglich am Oberschenkel herunter, durchtrennen ihn und lassen ihn sich zurückziehen.«
Lucy sprach fast automatisch, ihre Handbewegungen begleiteten ihre Worte und verrieten ihre Gewohnheit, zu unterrichten. Ruhig fuhr sie fort: »Zwischen Chirurgen wird immer viel über die beste Methode diskutiert, Nervenenden bei einer Amputation zu behandeln. Die Absicht ist selbstverständlich, später im Stumpf Schmerzen zu vermeiden.« Gewandt knüpfte sie einen Knoten und nickte dem Assistenten zu, der das überstehende Ende des Fadens abschnitt. »Eine ganze Reihe von Methoden sind erprobt worden - Injektion von Alkohol, Abbrennen des Nervenendes mit elektrischem Strom. Aber die Methode, die wir heute anwenden, ist immer noch die einfachste und die am häufigsten befolgte.«
Lucy sah auf die Uhr an der Wand des Operationsraumes. Sie wies auf neun Uhr fünfzehn. Fünfundvierzig Minuten waren verstrichen, seit sie angefangen hatte. Sie sah zu dem Narkosearzt.
»Noch alles in Ordnung?«
Der Narkosearzt nickte. »Könnte nicht besser sein, Lucy. Sie ist ein wirklich gesundes Mädchen.« Boshaft fragte er: »Sind Sie sicher, daß Sie der richtigen Patientin das Bein abnehmen?«
»Keine Sorge.« Lucy hatte nie etwas dafür übrig, wenn im Operationsraum über die Patienten auf dem Tisch Scherze gemacht wurden, obwohl sie manche Chirurgen kannte, die die ganze Zeit, vom ersten Einschnitt bis zur letzten Naht, witzelten. Es war alles eine Frage des Standpunktes, nahm sie an. Leichtfertigkeit war für manche vielleicht ein Mittel, tiefere Empfindungen zu verbergen. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls zog sie es vor, das Thema zu wechseln. Während sie begann, die hinteren Muskeln des Beines zu durchschneiden, fragte sie den Narkosearzt: »Wie geht es Ihrer Familie?« Lucy unterbrach sich, um eine zweite Klemme anzusetzen, die das Gewebe von dem neuen Einschnitt zurückzog.
»Ausgezeichnet. Wir ziehen nächste Woche in ein neues Haus.«
»Wirklich? In welcher Gegend?« Zu dem Assistenten sagte sie: »Etwas höher, bitte. Versuchen Sie, es mir aus dem Weg zu halten.«
»Somersets Heights. Es ist die neue Siedlung im Norden.«
Die hinteren Beinmuskeln waren fast durchtrennt. »Ich glaube, ich habe davon gehört. Ihrer Frau wird es sicher sehr gefallen«, antwortete sie.
Jetzt war der Knochen sichtbar. Der ganze große Schnitt klaffte rot. Der Narkosearzt antwortete: »Sie ist im siebten Himmel. Kauft Teppiche, sucht Vorhänge aus und all das andere. Es gibt nur ein Problem.«
Lucys Finger griffen um den Beinknochen herum, arbeiteten nach oben, lösten die umgebenden Muskeln. Den Studenten erklärte sie: »Sie werden bemerken, daß ich die Muskeln soweit wie möglich zurückschiebe. Dann können wir den Knochen recht hoch durchtrennen, und er ist nachher vollständig von Muskeln umgeben«
Der Assistent hatte Schwierigkeiten, die Muskellappen mit den beiden Klemmen zurückzuhalten. Sie half ihm, die Stellung zu verbessern, und er murmelte: »Das nächste Mal bringe ich mir eine dritte Hand mit.«
»Säge, bitte.« Die Operationsschwester war schon bereit, legte den Griff der Knochensäge in Lucys ausgestreckte Hand. Zu dem Narkosearzt sagte Lucy: »Was ist das für ein Problem?«
Lucy setzte die Säge so hoch an, wie sie konnte, und begann mit kurzen, gleichmäßigen Strichen zu sägen. Ein dumpfes, durchdringendes, knirschendes Geräusch wurde hörbar, als die Sägezähne sich in den Knochen hineinfraßen. Der Narkosearzt antwortete: »Ich muß das alles bezahlen.«
Lucy lachte. »Wir werden Sie öfter beschäftigen müssen, mehr Operationen ansetzen.« Sie hatte den Knochen halb durchgesägt, er erwies sich zäher als andere, aber selbstverständlich waren junge Knochen von Natur aus härter. Plötzlich kam ihr der Gedanke, wie tragisch dieser Augenblick war und sie sich trotzdem ungeniert unterhielten und sogar über alltägliche Dinge scherzten. In ein oder zwei Sekunden, länger dauerte es nicht mehr, war dieses Bein abgetrennt, und ein junges Mädchen - kaum mehr als ein Kind hatte für immer einen Teil seines Lebens verloren. Nie mehr könnte sie frei laufen, unbehindert wie andere, oder tanzen oder schwimmen oder reiten oder unbefangen lieben. Schließlich würde sie wohl das eine oder andere wieder tun, vieles aber nur mühsam und mit mechanischen Hilfen. Aber nichts konnte je wieder ganz das gleiche wie früher sein. Niemals würde sie wieder so fröhlich, unbeschwert und sorglos sein wie vorher, als ihr Körper noch ganz gewesen war. Hier lag der Kern der Tragödie: sie trat zu früh ein.
Lucy hielt inne. Ihre sensiblen Fingerspitzen verrieten ihr, daß die Säge den Knochen fast durchgeschnitten hatte. Dann erfolgte unvermittelt ein knirschendes Geräusch, auf den ein scharfes Knacken folgte. Im letzten Augenblick war der letzte Teil des Knochens unter dem Gewicht des fast abgetrennten Gliedes gebrochen. Das Bein war lose und fiel auf den Tisch. Zum erstenmal hob Lucy ihre Stimme und rief: »Halten Sie es! Schnell!«
Aber die Warnung kam zu spät. Als der Assistent zugriff, entglitt das Bein seinen Händen und fiel von dem Operationstisch auf den Boden.
»Lassen Sie es liegen!« Lucys Ton war scharf, als der Assistent vergaß, daß er dadurch unsteril werden würde, und sich niederbeugte, um das Bein aufzuheben.