Coleman sagte ruhig: »Ich habe Dr. Franz noch einmal angerufen. Er versprach, uns das Ergebnis sofort telefonisch durchzugeben.«
Pearson nickte dumpf. »Wo ist der Junge - Alexander?« fragte er.
»Die Polizei hat ihn wieder zurückgebracht. Er ist bei seiner Frau.« Coleman zögerte. »Meinen Sie nicht, daß wir uns mit dem Gesundheitsbüro über die Situation in der Küche auseinandersetzen sollten, solange wir doch warten müssen? Und uns vergewissern, ob die Untersuchung des Küchenpersonals begonnen hat?«
Pearson schüttelte den Kopf. »Später. Erst wenn das vorüber ist.« Er sagte heftig: »Ich kann an nichts anderes denken, solange der Fall nicht geklärt ist.«
Zum erstenmal, seit an diesem Vormittag in dem Labor die Ereignisse so unvermittelt ihren Anfang genommen hatten, dachte David Coleman über Pearson und das, was der alte Mann empfinden mochte, nach. Colemans Erklärung über den Sensibilitätstest war mit keinem Wort angezweifelt worden, und durch sein Schweigen schien Pearson stillschweigend zuzugeben, daß sein jüngerer Kollege besser informiert war als er selbst, zumindest auf diesem Gebiet. Coleman dachte: es muß bitter für ihn sein, das einzugestehen, und zum erstenmal empfand er für den alten Mann eine Regung der Sympathie.
Pearson hörte auf zu trommeln und schlug mit der flachen Hand hart auf den Tisch. »Warum rufen sie denn nicht an, verdammt noch mal?« rief er ungeduldig aus.
»Etwas Neues von der Pathologie?«
Dr. Charles Dornberger wartete, gewaschen und im Operationsanzug, für den Eingriff bereit in dem kleinen Operationsraum neben der Entbindungsstation. Die Frage war an die Stationsschwester gerichtet, die gerade hereingekommen war.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor.«
»Wie weit sind wir mit den Vorbereitungen?«
Die Schwester füllte zwei Gummiwärmflaschen und legte sie unter die Decke auf dem kleinen Operationstisch, der für Säuglinge benutzt wurde. Sie antwortete: »In ein paar Minuten ist alles fertig.«
Ein Praktikant trat ein und fragte Dr. Dornberger: »Beabsichtigen Sie, mit der Austauschtransfusion zu beginnen, auch wenn das Ergebnis des Coombs-Tests noch nicht vorliegt?«
»Ja«, antwortete er. »Wir haben schon zuviel Zeit verloren, und ich will nicht noch länger warten.« Er überlegte, dann fuhr er fort: »Jedenfalls ist die Anämie an dem Kind jetzt so deutlich erkennbar, daß die Austauschtransfusion auch ohne den Test gerechtfertigt ist.«
Die Schwester sagte: »Übrigens, Doktor, die Nabelschnur des Kindes ist sehr kurz abgeschnitten worden. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist.«
»Doch. Ich weiß es. Danke.« Dem Praktikanten erklärte Dornberger: »Wenn wir vorher wissen, daß eine Austauschtransfusion notwendig ist, lassen wir die Nabelschnur bei der Geburt lang, um einen leicht zugänglichen Verbindungspunkt zu haben. Bedauerlicherweise wußten wir in diesem Fall nicht rechtzeitig Bescheid, und darum wurde sie kurz abgeschnitten.
»Wie werden Sie vorgehen?« fragte der Praktikant.
»Ich werde unter örtlicher Betäubung einen Schnitt unmittelbar über der Nabelvene machen.« Zu der Schwester gewandt fragte Dornberger: »Ist das Blut vorgewärmt?«
Sie nickte. »Ja, Doktor.«
Dornberger erklärte dem Praktikanten: »Es ist wichtig, daß das neue Blut Körpertemperatur hat, sonst ist die Gefahr eines Schocks größer.«
Dornberger war sich bewußt, daß er mit seinen Worten sich selbst ebenso vergewissern wie den Praktikanten belehren wollte. Das Sprechen hielt ihn mindestens davon ab, zu gründlich nachzudenken, und gründlich nachdenken war etwas, das Dornberger im Augenblick vermeiden wollte. Seit er Pearson nach der Auseinandersetzung im Labor verlassen hatte, folterte ihn ein Sturm von Befürchtungen und Selbstvorwürfen. Die Tatsache, daß technisch gesehen ihn selbst kein Vorwurf für das Geschehene traf, erschien ihm nebensächlich. Es ging um seinen Patienten, der sich in Gefahr befand, es war sein Patient, der wegen einer ärztlichen Nachlässigkeit schlimmster Art sterben konnte, und die letzte Verantwortung lag allein bei ihm.
Im Begriff weiterzusprechen, hielt er plötzlich inne. Etwas stimmte nicht. Ihm schwindelte. Sein Kopf schmerzte, der Raum schwankte um ihn. Er schloß einen Augenblick die Augen, öffnete sie wieder. Alles in Ordnung. Seine Umgebung war wieder klar, das Schwindelgefühl fast verschwunden. Aber als er auf seine Hände sah, stellte er fest, daß sie zitterten. Er versuchte es zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht.
Der Brutkasten mit dem Säugling wurde hereingerollt. Er hörte den Praktikanten fragen: »Dr. Dornberger, fehlt Ihnen etwas?«
Es lag ihm auf der Zunge, nein zu sagen. Er wußte, wenn er es tat, konnte er es durchstehen, verbergen, was in ihm vorging, ohne daß jemand anders als er selbst etwas bemerkte. Und vielleicht konnte er selbst noch zu dieser späten Stunde dank seines Könnens und Wissens dieses Kind retten, im letzten Augenblick wenigstens im gewissen Maß sein Gewissen entlasten und seine Integrität bewahren.
Aber dann fiel ihm ein, was er selbst in all den Jahren immer wieder gesagt und woran er geglaubt hatte: von den alten Männern, die sich zu lange an ihre Macht klammern, seine Behauptung, er würde wissen, wann es für ihn an der Zeit sei, zurückzutreten, seine Überzeugung, daß er nie einen Patienten behandeln würde, wenn er nicht mehr seine vollen Fähigkeiten besaß. Daran dachte er. Dann sah er wieder auf seine zitternden Hände hinunter.
»Nein«, sagte er, »ich glaube, ich bin nicht in Ordnung.« Er schwieg. Und zum erstenmal ergriff ihn ein überwältigendes Gefühl, das es ihm schwermachte, seine Stimme zu beherrschen. Er bat: »Bitte, rufen Sie Dr. O'Donnell an. Sagen Sie ihm, ich sei nicht in der Lage, die Transfusion durchzuführen, und bäte ihn, sie für mich zu übernehmen.«
In diesem Augenblick hatte Dr. Charles Dornberger es aufgegeben, Arzt zu sein, und das wußte er.
Als das Telefon klingelte, riß Pearson den Hörer von der Gabel.
»Ja?« Eine Pause. »Hier spricht Dr. Pearson. « Er hörte zu. »Gut, danke.«
Ohne den Hörer zurückzulegen, drückte er auf die Gabel, und als die Zentrale antwortete, sagte er: »Geben Sie mir Dr. Dornberger. Hier Dr. Pearson.«
Eine Stimme meldete sich kurz, dann sagte Pearson: »Also gut, dann teilen Sie ihm mit, ich hätte gerade die Nachricht von der Universitätsklinik erhalten. Der Bluttest für den Säugling Alexander ist positiv. Das Kind hat Erythroblastose.«
Pearson legte den Hörer zurück. Dann sah er auf und bemerkte, daß David Colemans Blick auf ihm ruhte.
Dr. Kent O'Donnell ging durch den Hauptgang des Krankenhauses zur Neurologie. Er hatte dort eine Konsultation verabredet, um sich über eine partielle Lähmung bei einem seiner Patienten beraten zu lassen.
Es war der erste Tag, an dem O'Donnell nach seiner Rückkehr von New York am Abend vorher wieder im Three Counties Hospital war. Er empfand noch den Auftrieb und die Anregung, die ihm diese Reise gegeben hatten. Er sagte sich, daß jeder Arzt hin und wieder eine Luftveränderung brauche. Mitunter wirkte der tägliche Umgang mit der Medizin und mit Krankheiten deprimierend, erschöpfte nach einiger Zeit die Kräfte, ohne daß man selbst es bemerkte. Und im weitesten Sinn erwies sich die Abwechslung als belebend und stärkend für seinen Verstand. In diesem Zusammenhang drängte sich ihm immer wieder unausweichlich die Frage auf, ob er seine Tätigkeit im Three Counties Hospital aufgeben und Burlington endgültig verlassen solle, und jedesmal erschienen ihm die Argumente zugunsten des Entschlusses überzeugender.
Natürlich wußte er, daß er durch seine Gefühle für Denise stark beeinflußt wurde und daß vor der letzten Begegnung mit ihr der Gedanke, Burlington zu verlassen, nie in ihm aufgetaucht war. Aber, fragte er sich, was sprach dagegen, daß ein Mann eine berufliche Entscheidung traf, die seinem persönlichen Glück entgegenkam? Sie bedeutete nicht, daß er die Medizin aufgab. Er würde lediglich den Ort seiner Arbeit wechseln und einfach an einer anderen Stelle sein Bestes geben. Schließlich bestand das Leben eines Menschen aus der Summe aller seiner Teile. Ohne Liebe, wenn er sie einmal gefunden hatte, konnte der Rest verdorren und wertlos werden. Mit Liebe konnte er ein besserer Mensch sein - fleißig und hingebungsvoll -, weil sein Leben ein geschlossenes Ganzes war. Wieder dachte er an Denise, und seine Erregung und Erwartung stiegen.