Sein Vater! Ein neuer Gedanke überkam ihm: Es war sein eigener Vater - Dr. Byron Goleman -, der die Alexanders behandelt und der die Transfusionen angeordnet haben mußte, die Elizabeth Alexander erhalten hatte. Wenn sie mehrere Transfusionen erhalten hatte, stammte das Blut von mehr als einem Spender. Die Möglichkeit, daß wenigstens ein Teil des Blutes Rh-positiv war, konnte fast nicht ausgeschlossen werden. Das war also die Gelegenheit gewesen, bei der Elizabeths Blut sensibilisiert worden war. Dessen war er jetzt sicher. Damals konnte natürlich keine sichtbare Wirkung aufgetreten sein. Das heißt keine andere, außer, daß ihr eigenes Blut Antikörper entwickelte - Antikörper, die verborgen und unvermutet gelauert hatten, bis sie sich neun Jahre später gereizt, virulent und stark entwickelten, um ihr Kind zu vernichten.
Natürlich traf damit Colemans Vater kein Vorwurf, selbst wenn seine Hypothese richtig war. Er hatte ihre Behandlung im guten Glauben nach den letzten Kenntnissen der Medizin angeordnet. Richtig war, daß zu dieser Zeit der Rh-Faktor schon bekannt war und an manchen Orten der Rh-Faktor bereits ermittelt und berücksichtigt wurde. Aber von einem vielbeschäftigten Landarzt konnte kaum erwartet werden, sich über alles Neue sofort auf dem laufenden zu halten. Oder etwa doch? Manchen Ärzten dieser Zeit - darunter auch praktischen Ärzten - war der neue Horizont bekannt, den die moderne Einteilung der Blutgruppen geöffnet hatte. Sie handelten sofort, berücksichtigten die letzten Erkenntnisse. Aber möglicherweise, überlegte Coleman, waren das jüngere Männer. Sein Vater war zu dieser Zeit schon alt. Er arbeitete zu angestrengt, um genügend Zeit zum Lesen zu finden. Aber war das eine ausreichende Entschuldigung? War es eine Entschuldigung, die er selbst - David Goleman - bei einem anderen gelten lassen würde? Oder gab es vielleicht zwei verschiedene Normen -galten nachsichtigere, weniger strenge Gesetze, wenn es darum ging, über einen Verwandten und gar den eigenen verstorbenen Vater zu urteilen? Der Gedanke beunruhigte ihn. Mit Unbehagen empfand er, daß durch seine persönliche Zuneigung einige seiner Ansichten beeinträchtigt wurden, die er am höchsten hielt. David Coleman wünschte sich, daß er nicht darüber nachgedacht hätte. Es löste nagenden Zweifel aus, daß er sich doch nicht absolut sicher war. über gar nichts mehr sicher war.
Pearson sah ihn an. Er fragte: »Wie lange dauert es schon?« Coleman blickte auf die Uhr, ehe er antwortete: »Etwas über eine Stunde.«
»Dann werde ich anrufen.« Ungeduldig griff er nach dem Telefon. Dann zögerte er und zog seine Hand wieder zurück. »Nein«, sagte er, »es ist wohl besser, ich lasse es.«
Auch John Alexander im serologischen Labor konnte die Uhr nicht aus den Augen lassen. Vor einer Stunde war er von einem Besuch bei Elizabeth zurückgekommen und hatte seither mehrere halbherzige Versuche unternommen, zu arbeiten. Aber er hatte selbst bemerkt, daß seine Gedanken immer wieder weit von seiner Arbeit abirrten, und hatte es lieber aufgegeben als zu riskieren, einen Fehler zu begehen. Jetzt griff er wieder nach einem Reagenzglas, um es noch einmal zu versuchen, aber Bannister trat zu ihm und nahm es ihm aus der Hand.
Der alte Laborant las die Anforderung und sagte freundlich: »Lassen Sie mich das nur machen, John.«
Alexander protestierte, aber Bannister bestand darauf. »Überlassen Sie es ruhig mir. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer Frau?«
»Danke, aber ich bleibe lieber hier. Dr. Coleman sagte, sobald er etwas erfahre, wolle er herkommen und mich benachrichtigen.« Alexanders Blick wanderte wieder zur Uhr an der Wand. Mit gepreßter Stimme fügte er hinzu: »Es kann doch nicht mehr lange dauern?«
Bannister wandte sich ab. »Nein«, erwiderte er langsam, »ich glaube nicht.«
Elizabeth Alexander war allein in ihrem Krankenzimmer. Regungslos, den Kopf tief in den Kissen, die Augen geöffnet, lag sie da, als Schwester Wilding hereinkam. Elizabeth fragte: »Weiß man schon etwas?«
Die ältliche, grauhaarige Schwester schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas erfahre.« Sie stellte das Glas Orangensaft, das sie hereingebracht hatte, neben Elizabeth und fügte hinzu: »Ich kann ein paar Minuten bei Ihnen bleiben, wenn Sie mögen.«
»Ja, bitte.« Elizabeth lächelte schwach, und die Schwester zog sich einen Stuhl an das Bett und setzte sich. Schwester Wilding war froh, daß sie eine Weile ihre Füße ausruhen konnte. Gerade in letzter Zeit schmerzten sie ihr häufig, und sie vermutete, daß ihre Füße sie wahrscheinlich zwingen würden, die Krankenpflege aufzugeben, ob sie wollte oder nicht. Nun, sie hatte das Gefühl, daß sie dazu ohnehin bald bereit war.
Schwester Wilding wünschte, daß sie etwas für die beiden jungen Leute tun könne. Sie hatte sie von Anfang an ins Herz geschlossen. Ihr kamen die beiden Alexanders fast noch wie Kinder vor. In gewisser Weise hatte sie bei der Pflege dieser jungen Frau, die jetzt allem Anschein nach ihr Baby verlor, fast das Gefühl, als pflege sie die Tochter, die sie sich vor vielen Jahren gewünscht, aber nie bekommen hatte. War das nicht geradezu albern? Nach all den Jahren als Krankenpflegerin wurde sie auf ihre alten Tage noch sentimental. Sie fragte Elizabeth: »Woran dachten Sie gerade, als ich zu Ihnen hereinkam?«
»Ich dachte an Kinder, an dicke, gesunde Kinder, die auf einem grünen Rasen in der Nachmittagssonne herumtollen.« Elizabeths Stimme klang träumerisch. »So war es in Indiana im Sommer, als ich noch Kind war. Schon damals dachte ich oft daran, daß ich eines Tages selbst Kinder haben würde und daß ich bei ihnen säße, wenn sie, genau wie ich damals, in der Sonne auf dem Gras herumtollen.«
»Es ist merkwürdig mit Kindern«, antwortete Schwester Wilding. »Manchmal kommt es so ganz anders, als man es sich denkt. Ich habe einen Sohn, wissen Sie. Er ist jetzt schon erwachsen.«
»Nein«, sagte Elizabeth, »das wußte ich nicht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte die Schwester. »Er ist ein guter Junge, Offizier bei der Marine. Vor ein oder zwei Monaten hat er geheiratet. Er schrieb es mir in einem Brief.«
Elizabeth fragte sich verwundert, wie es wohl sein mochte, wenn man einen Sohn zur Welt brachte und dann später einen Brief von ihm bekam, in dem er schrieb, daß er geheiratet habe.
»Ich hatte nie das Gefühl, daß wir uns sehr gut kannten«, sagte Schwester Wilding. »Ich fürchte, in gewisser Weise war es mein Fehler - ich ließ mich scheiden und bot ihm nie ein wirkliches Heim.«
»Aber manchmal können Sie doch zu ihm fahren und ihn besuchen«, antwortete Elizabeth. »Und wahrscheinlich werden doch Enkel kommen.«
»Daran habe ich oft gedacht«, sagte Schwester Wilding. »Ich glaubte immer, es müßte eine große Freude für mich sein. Ich meine, Enkel zu haben, verstehen Sie. Irgendwo in der Nähe zu wohnen und abends hinüberzugehen und auf die Kinder aufzupassen und all das.«
»Aber können Sie das denn nicht?«
Schwester Wilding schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, wenn ich dort hinkomme, wird es wie ein Besuch bei Fremden sein, und oft kann es auch nicht sein. Mein Sohn ist nämlich nach Hawaii versetzt worden. In der vergangenen Woche sind sie dorthin abgereist.« Mit einem Anflug trotziger Rechtfertigung fügte sie hinzu: »Er wollte mich vorher noch mit seiner Frau besuchen, aber im letzten Augenblick kam dann etwas dazwischen, und sie schafften es nicht mehr.«
Darauf herrschte Schweigen, bis Schwester Wilding sagte: »Nun, ich muß wieder an meine Arbeit.« Sie erhob sich und sagte an der Tür noch: »Trinken Sie Ihren Saft, Mrs. Alexander. Ich komme wieder und gebe Ihnen Bescheid, sobald wir etwas erfahren.«