Kent O'Donnell lief der Schweiß über das Gesicht, und die assistierende Schwester beugte sich vor, um ihm die Stirn abzuwischen. Fünf Minuten waren vergangen, seit er mit der künstlichen Atmung angefangen hatte, und der winzige Körper unter seinen Händen zeigte noch keine Reaktion. Seine Daumen lagen auf der kleinen Brust, die anderen Finger griffen zum Rücken herum. Das Kind war so klein, daß sich O'Donnells Hände überdeckten. Er mußte sehr behutsam sein, weil ein bißchen zuviel Druck die gebrechlichen Knochen wie dünne Zweige zerdrücken würde. Sanft drückte er noch einmal zu, ließ wieder locker. Der Sauerstoff zischte, versuchte den Atem zu wecken, die schwachen, winzigen Lungen ins Leben zurückzurufen und zu eigener Tätigkeit anzuspornen.
O'Donnell wünschte brennend, daß dieses Kind lebte. Ihm stand vor Augen, wenn es starb, bedeutete das, daß das Three Counties Hospital, sein Krankenhaus, in seiner wichtigsten Aufgabe versagt hatte: Selbstlos für die Kranken und die Schwachen zu sorgen. Für dieses Kind war nicht selbstlos gesorgt worden. Es hatte das Schlechteste bekommen, als es das Beste brauchte, und Pflichtvergessenheit hatte über Können gesiegt. Er entdeckte, daß er versuchte, seinen eigenen, brennenden Willen durch seine Fingerspitzen auf das kleine versagende Herz unter seinen Händen zu übertragen, sich ihm verständlich zu machen. »Du brauchtest uns, und wir haben versagt. Du erprobtest unsere Stärke, und du fandest uns schwach. Aber bitte, laß es uns noch einmal versuchen, gemeinsam. Manchmal machen wir es besser als jetzt. Verurteile uns nicht für immer, nur weil wir einmal versagten. Unwissenheit und Torheit herrschen in der Welt, und Vorurteil und Blindheit. Das haben wir dir schon gezeigt. Aber es gibt auch andere Dinge, gute, warme Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Darum atme! Es ist so einfach und so wichtig!«
O'Donnells Hände bewegten sich, vor und zurück. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen. lockerten sich. drückten zusammen.
Weitere fünf Minuten waren vergangen, und der Praktikant setzte wieder das Stethoskop an, lauschte angestrengt. Jetzt richtete er sich auf. Sein Blick begegnete dem O'Donnells. Er schüttelte den Kopf. O'Donnell hielt inne. Er wußte, jede weitere Mühe war vergeblich.
Er wandte sich zu Dornberger und sagte gefaßt: »Ich fürchte, es ist vorbei.«
Die beiden sahen sich an, und beide wußten, daß sie das gleiche empfanden.
O'Donnell spürte, wie weißglühender Zorn in ihm aufstieg. Wütend riß er Maske und Kappe ab. Er zerrte an den Gummihandschuhen und warf sie wild zu Boden.
Er bemerkte, daß die anderen ihn aufmerksam beobachteten. Seine Lippen bildeten eine schmale, grimmige Linie. Er sagte zu Dornberger: »Also gut, gehen wir.« Dann fügte er schroff zu dem Praktikanten gewendet hinzu: »Wenn jemand nach mir fragt, ich bin bei Dr. Pearson.«
XXI
In der Pathologie schrillte das Telefon auf, und Pearson griff nach dem Hörer. Dann hielt er inne. Sein blasses Gesicht verriet seine Nervosität. Er sagte zu Coleman: »Nehmen Sie es an.«
Während David Coleman an den Apparat ging, klingelte das Telefon ungeduldig zum zweitenmal. Gleich darauf sagte er: »Hier Dr. Coleman.« Er lauschte ausdruckslos, sagte dann »Danke« und hängte ein. Sein Blick begegnete dem Pearsons. Still sagte er: »Das Kind ist gerade gestorben.«
Pearson antwortete nicht. Er schlug den Blick nieder. In seinem Bürosessel regungslos in sich zusammengesunken, das zerfurchte, schroffe Gesicht halb im Schatten, sah er alt und geschlagen aus.
Coleman sagte halblaut: »Ich glaube, ich gehe ins Labor hinüber. Einer muß mit John sprechen.«
Er erhielt keine Antwort. Als er den Raum verließ, saß Pearson immer noch schweigend und regungslos, mit Augen, die nichts sahen, und Gedanken, die nur er selbst kannte.
Carl Bannister hatte das Labor verlassen, als David Coleman hereinkam. John Alexander war allein, saß auf einem Hocker vor einem Arbeitstisch an der Wand, die Uhr unmittelbar über seinem Kopf. Er drehte sich nicht um, als Coleman sich mit zögernden Schritten näherte, wobei das Leder seiner Sohlen knirschte.
Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich fragte Alexander, ohne sich umzudrehen, leise: »Ist es.vorüber?«
Wortlos streckte Coleman seine Hand aus und legte sie auf Alexanders Schulter.
Mit verhaltener Stimme fragte Alexander noch einmaclass="underline" »Er ist tot, nicht wahr?«
»Ja, John«, antwortete Coleman sanft. »Er ist tot. Es tut mir leid.«
Er zog seine Hand zurück, ab Alexander sich langsam umwandte. Das Gesicht des jungen Mannes verriet seinen Schmerz. Tränen liefen ihm aus den Augen. Leise, aber eindringlich fragte er: »Warum, Dr. Coleman, warum?«
David Coleman suchte nach Worten, versuchte, es zu erklären. »Ihr Baby wurde zu früh geboren, John. Seine Chancen waren nicht günstig, selbst wenn. das andere. nicht geschehen wäre.«
Alexander sah ihm gerade in die Augen und sagte: »Aber er hätte leben können.«
Dies war der Augenblick, in dem er der Wahrheit nicht ausweichen konnte. »Ja«, gab Coleman zu, »er hätte leben können.«
John Alexander war aufgestanden. Sein Gesicht war dicht vor Colemans, sein Blick flehte. »Wie konnte es nur geschehen.? In einem Krankenhaus .? Mit Ärzten.?«
»John«, entgegnete Coleman, »das kann ich Ihnen in diesem Augenblick nicht beantworten.« Leiser fügte er hinzu: »Ich kann es mir jetzt selbst nicht beantworten.«
Alexander nickte stumm. Er zog sein Taschentuch und wischte sich über die Augen. Dann sagte er stilclass="underline" »Danke, daß Sie zu mir gekommen sind, um es mir zu sagen. Ich werde jetzt zu Elizabeth gehen.«
Kent O'Donnell hatte auf dem Weg durch das Krankenhaus mit Dr. Dornberger nicht gesprochen. Der wilde Zorn und die Enttäuschung, die wie eine Woge über ihm zusammengeschlagen waren, als er das tote Kind sah, machten ihn verschlossen und schweigsam. Während sie durch die Gänge und über die Treppen hinuntereilten, weil sie nicht die Ruhe besaßen, auf den langsamen Fahrstuhl zu warten, warf sich O'Donnell wieder erbittert seine Passivität gegenüber Joe Pearson und der pathologischen Abteilung des Three Counties Hospitals vor. Gott weiß, dachte er, ich bin oft genug auf die drohende Gefahr hingewiesen worden. Rufus und Reubens hatten ihn gewarnt, und er hatte es mit seinen eigenen Augen gesehen, daß Pearson immer mehr nachließ, je älter er wurde, daß die Verantwortung für die Pathologie in dem vielbeschäftigten, wachsenden Krankenhaus über seine Kräfte ging. Aber nein! Er, Dr. med. Kent O'Donnell, Mitglied der Königlichbritischen Chirurgischen Gesellschaft, Mitglied der Amerikanischen Chirurgischen Gesellschaft, Chef der Chirurgie und Präsident des medizinischen Ausschusses des Three Counties Hospitals - Hut ab vor einem feinen, großartigen Mann! - »Lasse ihn siegreich sein, glücklich und ruhmbedeckt, lang herrsche er, Gott schütze O'Donnell!« -, er war zu beschäftigt gewesen, um sich um seine eigentliche Aufgabe zu kümmern, um die Härte einzusetzen, die seine Stellung verlangte, um es mit den Ungelegenheiten aufzunehmen, die auf Taten folgen mußten. Darum hatte er sich lieber abgewendet, sich eingeredet, es sei alles in Ordnung, als ihm Erfahrung und Instinkt in seinem Innersten sagen mußten, daß er das nur hoffte. Und wo war er die ganze Zeit gewesen - er, der große Mann der Medizin? Er hatte Krankenhauspolitik getrieben, hatte Eustace Swayne umschmeichelt, in der Hoffnung, wenn er nur leisetrete, wenn er den Status quo dulde, wenn er Swaynes Freund Joe Pearson völlig unbehelligt ließe, daß dann der alte Finanzhai dankbar sein Geld für den prächtigen Neubau des Krankenhauses spenden würde - für O'Donnells Traum von einem Reich, in dem er selbst König wäre. Nun, es mochte sein, daß das Krankenhaus das Geld trotzdem bekam, vielleicht aber auch nicht. Doch ob ja oder nein, ein Preis zum mindesten war dafür schon bezahlt. Die Quittung kannst du oben finden: eine kleine Leiche in einem Operationsraum in der vierten Etage. Als sie dann vor Joe Pearsons Tür ankamen, fühlte er, daß sein Zorn verraucht und Trauer an seine Stelle getreten war. Er klopfte und Dornberger folgte ihm hinein.