Als er gesprochen hatte, erkannte er, daß seine Antwort auf diese Frage über die Laborarbeit mechanisch erfolgt war. Er fragte sich, was er gegenüber Dr. Pearson empfand, und kam zu dem Ergebnis, daß er seine Gefühle nicht definieren konnte. Eigentlich müßte er diesen alten Mann doch hassen, dessen Nachlässigkeit den Tod seines Sohnes verschuldet hatte, und später würde er es vielleicht tun. Aber jetzt empfand er nur dumpfen, tiefsitzenden Schmerz und Kummer. Vielleicht war es ganz gut, daß ihnen allen im Augenblick sehr viel Arbeit bevorstand. Wenigstens konnte er versuchen, darüber einen Teil zu vergessen.
»Ah so«, sagte Pearson. »Gut, dann arbeiten Sie im Spülraum mit, und bleiben Sie dort, bis alle erforderlichen Schalen bereitstehen. Wir müssen sie heute noch haben.«
»Ich gehe sofort.« Alexander folgte McNeil hinaus.
Jetzt überlegte Pearson laut: »Wir müssen fünfundneunzig Kulturen ansetzen. Sagen wir hundert. Nehmen wir an, daß fünfzig Prozent auf Laktose positiv reagieren, dann bleiben weitere fünfzig Prozent, die wir weiter untersuchen müssen.« Er sah Coleman fragend an.
»Ganz meine Meinung.« Coleman nickte.
»Also gut. Wir brauchen zehn Reagenzgläser mit Zuckerlösung für jede Kultur. Fünfzig Kulturen bedeuten also fünfhundert Unterkulturen.« Zu Bannister gewandt fragte Pearson: »Wieviel Reagenzgläser liegen bereit? Sauber und sterilisiert.«
Bannister überlegte: »Vielleicht zweihundert.«
»Sind Sie ganz sicher?« Pearson musterte ihn scharf.
Bannister errötete. Dann sagte er: »Auf jeden Fall hundertfünfzig.«
»Dann bestellen Sie noch dreihundertundfünfzig. Rufen Sie die Lieferfirma an, und sagen Sie denen, daß wir sie heute noch haben müssen. Auf jeden Fall! Sagen Sie auch gleich, daß der Papierkram nachkommt.« Pearson fuhr fort: »Wenn Sie das getan haben, fangen Sie damit an, die Gläser in Gruppen von je zehn vorzubereiten. Überprüfen Sie die Zuckerbestände. Vergessen Sie nicht, wir brauchen Glukose, Laktose, Dulcitol, Sucrose, Mannitol, Maltose, Xylose, Arabinose, Rhamnose und ein Glas für Indol-Bildung.«
Pearson hatte die verschiedenen Zuckersorten ohne zu zögern heruntergerasselt. Mit dem Anflug eines Lächelns sagte er zu Bannister: »Sie finden die Liste und die Tabelle für die Reaktionen von Salmonella typhi auf Seite Sechsundsechzig des Laboratoriumshandbuches. Und nun an die Arbeit.«
Hastig schlurfte Bannister zum Telefon.
Pearson wendete sich an David Coleman und fragte: »Habe ich irgend etwas vergessen?«
Coleman schüttelte den Kopf. Die Art, wie der alte Mann sich der Situation gewachsen zeigte, und seine Schnelligkeit und seine Gründlichkeit hatten Coleman überrascht und beeindruckt. »Nein«, antwortete er, »nicht daß ich wüßte.«
Einen Augenblick sah Pearson den jüngeren Mann an, ehe er sagte: »Dann lassen Sie uns Kaffee trinken gehen. Es ist für ein paar Tage vielleicht die letzte Möglichkeit.«
Nachdem Mike Seddons Vivian verlassen hatte, überfiel es sie, wie groß die Lücke war, die er hinterließ, und wie lang sich die nächsten Tage ohne ihn dahinziehen würden. Sie glaubte jedoch, es sei richtig gewesen, von Mike zu verlangen, sich für ein paar Tage von ihr fernzuhalten. Das gab ihnen beiden die Möglichkeit, sich zu beruhigen und klar über die Zukunft nachzudenken. Nicht, daß Vivian selbst Zeit zum Nachdenken brauchte. Sie war sich ihrer Gefühle völlig sicher, aber so war es Mike gegenüber fairer, oder etwa nicht? Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß sie durch ihr Verhalten von Mike vielleicht verlangte, er solle seine Liebe für sie beweisen, während er ihre ohne zu fragen als selbstverständlich hinnahm.
Aber das war nicht ihre Absicht gewesen. Vivian fragte sich unbehaglich, ob Mike es so aufgefaßt habe, ob sie ihm mißtrauisch und nicht bereit erschienen sei, seine Zuneigung auf sein Wort hin zu glauben. Anscheinend hatte er es nicht getan -das stimmte. Aber wenn er darüber nachdachte, wie sie selbst jetzt, konnte er auf diesen Gedanken kommen. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen oder ihm einen Brief schreiben solle, um ihm zu erklären, was sie wirklich beabsichtigte - festzustellen, ob sie sich ihrer selbst sicher sei. War sie sich wirklich absolut sicher? Auch jetzt? Manchmal war es schwer, klar zu denken. Man begann etwas, was man für richtig hielt, dann begann man sich zu fragen, ob ein anderer es nicht falsch verstehe, nach einem Hintersinn suche, an den man selbst nicht gedacht hatte. Wie konnte man tatsächlich sicher sein, was das beste war, bei allem. überall. immer.?
Es klopfte leicht an die Tür, und Mrs. Loburton trat ein. Als Vivian sie sah, vergaß sie plötzlich, daß sie schon neunzehn war, erwachsen, in der Lage, für sich selbst zu entscheiden. Sie streckte ihre Arme aus. »Oh, Mutter«, seufzte sie, »ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Die Untersuchung des Küchenpersonals war in vollem Gang. In einem kleinen Sprechzimmer - dem ersten einer Reihe gleichartiger Räume in der Abteilung für ambulante Patienten -beendete Dr. Harvey Chandler die Untersuchung eines der Köche. »Gut«, sagte er, »Sie können sich anziehen.«
Zunächst war sich der Chef der inneren Abteilung nicht sicher gewesen, ob es mit seiner Würde vereinbar sei, selbst einige der Untersuchungen vorzunehmen. Aber schließlich hatte er sich dazu entschlossen. Sein Auftreten glich etwa dem eines Truppenkommandeurs, der sich moralisch verpflichtet fühlt, sich bei einer Landungsoperation an die Spitze seiner Soldaten zu stellen.
Dr. Chandler war geneigt, Dr. O'Donnell und Dr. Pearson ihre bisher führende Rolle zu verübeln. Gewiß, Dr. O'Donnell war Präsident des medizinischen Ausschusses und berechtigt, sich um das Gesamtwohl des Krankenhauses zu kümmern. Trotzdem, argumentierte Chandler, O'Donnell war nicht mehr als ein Chirurg und Typhus selbstverständlich eine Angelegenheit der inneren Medizin. In gewisser Weise fühlte sich der Chef der inneren Abteilung um eine Starrolle in der gegenwärtigen Krise beraubt. Insgeheim sah Dr. Chandler in sich selbst manchmal den Mann des Schicksals, aber die Gelegenheiten, das zu beweisen, ergaben sich nur zu selten. Jetzt, als eine derartige Gelegenheit vorlag, war ihm, wenn auch nicht gerade eine geringfügige, so doch zumindest eine zweitrangige Rolle zugewiesen worden. Er mußte allerdings zugeben, daß die von O'Donnell und Pearson getroffenen Anweisungen sich zu bewähren schienen, und zum mindesten verfolgten sie alle gemeinsam das Ziel, diesen beklagenswerten Typhusausbruch zu bekämpfen. Mit leicht gerunzelter Stirn gab er dem Koch, der sich jetzt angezogen hatte, seine Anweisungen: »Vergessen Sie nicht, besonders sorgfältig auf Hygiene zu achten, und halten Sie unbedingte Sauberkeit bei Ihrer Arbeit in der Küche ein.«
»Ja, Doktor.«
Als der Mann hinausging, trat Kent O'Donnell ein. »Nun«, fragte er, »wie läuft alles?«
Chandler war zunächst geneigt, hochmütig zu antworten. Dann dachte er, daß dazu vielleicht doch kein Anlaß vorliege, und von dem kleinen Fehler abgesehen, daß O'Donnell nach Chandlers Meinung sich manchmal etwas zu demokratisch gab, war er als Leiter des Ausschusses ein guter Mann und zweifellos erheblich viel besser als sein Vorgänger. Deshalb antwortete er recht liebenswürdig: »Ich habe schon seit einiger Zeit vergessen, zu zählen. Ich nehme an, wir werden fertig. Aber bisher hat sich noch nichts ergeben.«
»Gibt es neue Typhuskranke?« fragte ODonnell. »Und wie steht es mit den vier Verdächtigen?«
»Es sind jetzt vier eindeutige Fälle«, antwortete Chandler, »und von den Verdächtigen können Sie zwei streichen.«
»Sind schwere Fälle darunter?«
»Ich glaube nicht. Dem Himmel sei Dank für die Antibiotika. Vor fünfzehn Jahren noch wäre die Situation sehr viel ernster gewesen.«
»Ja, zweifellos.« O'Donnell war klug genug, darauf zu verzichten, nach den Maßnahmen für die Isolierung der Erkrankten zu fragen. Bei all seiner Anmaßung konnte man sich bei Chandler immer darauf verlassen, daß er medizinisch die richtige Entscheidung traf.