Er hatte ausgesungen, das Gespräch der Bürger sank jetzt zum Geflüster herab, und Georg glaubte zu bemerken, daß sie über ihn ihre Glossen machen. Auch die freundliche Wirtin schien neugierig, zu wissen, wen sie in ihrem Erkerlein beherberge. Sie setzte die Speisen, die sie ihm bereitet hatte, vor ihn hin, nachdem sie ein schönes Tafeltuch über den runden Tisch ausgebreitet hatte; dann nahm sie selbst an der entgegengesetzten Seite Platz und befragte ihn, wiewohl sehr bescheiden, über das Woher? und Wohin?
Der junge Mann war nicht gesonnen, ihr über den eigentlichen Zweck seiner Reise genaue Auskunft zu geben. Das Gespräch der Gäste an der langen Tafel hatte ihn belehrt, daß es hier nicht minder gefährlich sei, zu gar keiner Partei zu gehören, als sich für irgendeine bestimmt zu erklären, er sagte daher, er komme aus Franken und werde noch weiter hinauf ins Land, in die Gegend von Zollern reisen, und schnitt somit jede weitere Frage ab; denn die Wirtin war zu bescheiden, als daß sie sich den Ort wohin er gehe, noch näher hätte bezeichnen lassen. Es schien ihm aber eine gute Gelegenheit, sich nach Marien zu erkundigen, denn er war glücklich, wenn ihm die Wirtin zum Goldenen Hirsch, auch nur ihren Namen nennen, nur den Saum ihres Kleides beschreiben würde. Er fragte daher nach den Burgen umher und nach den ritterlichen Familien, die in der Nachbarschaft wohnen.
Die Wirtin schwatzte gerne; sie gab ihm in weniger als einer Viertelstunde die Chronik von fünf bis sechs Schlössern aus der Gegend, und bald kam auch Lichtenstein an die Reihe. Der junge Mann holte tiefer Atem bei diesem Namen, und Schob die Schüssel weit hinweg, um seine Aufmerksamkeit ganz der Erzählerin zu widmen.
»Nun, die Lichtensteiner sind gar nicht arm, im Gegenteil, sie haben schöne Felder und Wälder, und keine Rute Landes verpfändet: da ließe sich der Alte lieber seinen langen Bart abscheren, obgleich er gar viel darauf hält und ihn immer streichelt, wenn er mit den Leuten spricht. Er ist ein strenger, ernster Mann; was er einmal haben will, das muß geschehen, und sollte es biegen oder brechen. Er ist auch einer von denen, die es so lange mit dem Herzog hielten; die Bündischen werden es ihm übel entgelten lassen.«
»Wie ist denn seine..., ich meine Ihr sagtet, er habe eine Tochter, der Lichtenstein?«
»Nein«, antwortete die Wirtin, indem sich ihr sonst so heiteres Gesicht in grämliche Falten zog, »von der habe ich gewiß nicht gesprochen, daß ich es wüßte. Ja, er hat eine Tochter, der gute alte Mann, und es wäre ihm besser, er führe kinderlos in die Grube, als daß er aus Jammer über sein einziges Kind abfährt.«
Georg traute seinen Ohren nicht; was konnte die Wirtin gerade von Marien so Arges denken, daß sie den Vater glücklich pries, wenn er dieses Kind nicht hätte? »Was ist es denn mit diesem Fräulein«, fragte er, indem er sich vergebens abmühte, recht scherzhaft auszusehen; »Ihr macht mich neugierig, Frau Wirtin; oder ist es ein Geheimnis, das Ihr nicht sagen dürft?«
Die Frau zum Goldenen Hirsch schaute aus dem Erker heraus nach allen Seiten, ob niemand lausche, aber die Bürger waren ruhig in ihrem Gespräch begriffen, und achteten nicht auf sie, und sonst war niemand in der Nähe, der sie hören konnte. »Ihr seid ein Fremder«, hub sie nach diesen Forschungen an, »Ihr reiset weiter und habt nichts mit dieser Gegend zu schaffen, darum kann ich Euch wohl sagen, was ich nicht jedem vertrauen möchte. Das Fräulein dort oben auf dem Lichtenstein ist ein – ein – ja bei uns Bürgersleuten würde man sagen, sie ist ein schlechtes Ding, eine lose Dirne –«
»Frau Wirtin!« rief Georg.
»So schreiet doch nicht so, verehrter Herr Gast, die Leute schauen sich ja um. Meinet Ihr denn, ich sage, was ich nicht ganz gewiß weiß? Denkt Euch, alle Nacht Schlag eilf Uhr läßt sie ihren Liebsten in die Burg. Ist das nicht schrecklich genug, für ein sittsames Fräulein?«
»Bedenket, was Ihr sprechet! Ihren Liebsten?«
»Ja leider, nachts um eilf Uhr ihren Liebsten; es ist eine Schande und ein Spott! Es ist ein ziemlich großer Mann, der kommt in einen grauen Mantel gehüllt ans Tor. Sie hat es zu machen gewußt, daß zu dieser Zeit alle Knechte vom Tor entfernt sind, und nur der alte Burgwart, der ihr auch in ihrer Kindheit zu allen losen Streichen half, um den Weg ist; da kommt sie nun allemal, wenn es drüben in Holzelfingen eilf Uhr schlägt, selbst herunter in den Hof, die Nacht mag so kalt sein als sie will, und bringt den Schlüssel zur Zugbrücke, den sie zuvor ihrem alten Vater vom Bette stiehlt; dann schließt der alte Sünder, der Burgwart, auf, die Brücke fällt nieder, und der Mann im grauen Mantel eilt in die Arme des Fräuleins.«
»Und dann?« fragte Georg, der beinahe keinen Atem mehr in der Brust, kein Blut mehr in den Wangen hatte; »und dann?«
»Ja, dann wird Braten, Brot und Wein geholt; so viel ist gewiß, daß der nächtliche Liebste einen ungeheuren Hunger haben muß, denn er hat in mancher Nacht einen halben Rehziemer rein aufgezehrt, und zwei, drei Nössel Wein dazu getrunken; was weiter geschieht, weiß ich nicht; ich will nichts vermuten, nichts sagen, aber das weiß ich«, setzte sie mit einem christlichen Blick gen Himmel hinzu, »beten werden sie nicht.«
Georg schalt sich nach kurzem Nachdenken selbst aus, daß er nur einen Augenblick gezweifelt habe, daß diese Erzählung eine Lüge, von irgendeinem müßigen Kopf ersonnen sei; oder wenn auch etwas Wahres darin wäre, so konnte es doch nichts sein, das Marien zur Unehre gereicht hätte.
Wenn es wahr ist, daß die Liebe eines Jünglings in den guten alten Zeiten zwar nicht weniger leidenschaftlich war, als in unseren Tagen, aber mehr den Charakter reiner anbetender Ehrfurcht trug, daß nach der Sitte der Zeit die Geliebte nicht auf gleicher Stufe mit ihrem Verehrer, sondern um eine höher stand, wenn wir den romantischen Erzählungen alter Chroniken und Minnebücher trauen dürfen, die so viele Beispiele aufführen, daß sich edle Männer, wenn sie in Liebe sind, für die Treue und Reinheit ihrer Dame, auf der Stelle totschlagen lassen, so ist es nicht zu verwundern, daß Georg von Sturmfeder wenigstens auf diese Indizien hin, von Marien nichts Schlechtes denken konnte. So rätselhaft ihm selbst jene nächtlichen Besuche vorkommen mochten, so sah er doch klar, es sei weder bewiesen, daß der Vater nichts darum wisse noch daß der geheimnisvolle Mann gerade ein Liebhaber sein müsse. Er trug diese Zweifel auch seiner Wirtin vor.
»So? meint Ihr, der Vater wisse um die Geschichte?« sprach sie; »dem ist nicht so. Sehet, ich weiß das gewiß, denn die alte Rosel, die Amme des Fräuleins –«
»Die alte Rosel hat es gesagt?« rief Georg unwillkürlich; ihm war ja diese Amme, die Schwester des Pfeifers von Hardt, so wohlbekannt; freilich wenn diese es gesagt hatte, war die Sache nicht mehr so zweifelhaft; denn er wußte, daß sie eine fromme Frau und dem Fräulein sehr zugetan war.
»Ihr kennt die alte Rosel?« fragte die Wirtin, erstaunt über den Eifer, womit ihr fremder Gast nach dieser Frau fragte.
»Ich? sie kennen? nein, erinnert Euch nur, daß ich heute zum erstenmal in diese Gegenden komme; nur der Name Rosel fiel mir auf.«
»Sagt man bei Euch nicht so? Rosel heißt Rosina bei uns, und so nennt man die alte Amme in Lichtenstein; nun seht, diese hält viel auf mich, und kommt hie und da zu mir, dann koche ich ein süßes Weinmüschen, was sie für ihr Leben gerne ißt, und zum Dank vertraut sie mir allerlei Neues. Von ihr habe ich auch was ich Euch sagte. Der Vater weiß gar nichts von diesen nächtlichen Besuchen, denn er geht schon um acht Uhr zu Bette, die Amme schickte das Fräulein jedesmal um acht Uhr in ihre Kammer. Das fiel nun nach ein paar Tagen der guten Rosel auf. Sie stellt sich, als gehe sie zu Bette, und siehe da, was geschieht? Kaum ist alles ruhig im Schloß, so macht das Fräulein, das sonst keinen Span anrührt, eigenhändig ein Feuer auf den Herd; kocht und bratet, was sie kann und weiß, holt Wein aus dem Keller, holt Brot aus dem Schrank, und deckt in der Herrenstube den Tisch. Dann schaut sie zum Fenster hinaus, in die kalte schwarze Nacht, und richtig wenn es drüben eilf Uhr schlägt, rasselt die Zugbrücke nieder, der nächtliche Geselle wird eingelassen, und geht mit dem Fräulein in die Herrenstube; sie hat auch schon gehorcht, die Rosel, was wohl drinnen vorgehe, aber die eichenen Türen sind gar dick; dann lugte sie auch einmal durchs Schlüsselloch, sah aber nichts als den Kopf des Fremden.«