Georg hatte sich während dieser Reden der Frau Rosel vergeblich von ihr loszumachen gesucht. Er fühlte, daß es sich nicht gezieme, vor ihr zu zeigen, daß er auf Marien zürne, und doch glaubte er keinen Augenblick mehr bleiben zu können. Er rang endlich eine Hand aus der knöchernen Faust der Alten, aber indem er sie frei fühlte, hatte sie auch schon Marie ergriffen, hatte sie, ohne auf Frau Rosels höhnisches Lächeln zu achten, an ihr Herz gedrückt; er war bei dieser Bewegung einem ihrer Blicke begegnet, die ihn auf ewig zu bannen schienen. Jetzt aber erwachte in ihm ein neuer Kampf, eine neue Verlegenheit. Er fühlte seinen Unmut schwinden, er fühlte, daß es Marie nicht so bös mit ihm gemeint habe – wie sollte er aber jetzt mit Ehren zurückkehren? wie sollte er so ganz ungekränkt scheinen? Wäre er mit Marien allein gewesen, so war es vielleicht noch eher möglich, aber vor diesem Zeugen, vor der wohlbekannten Frau Rosel umzukehren, sich durch einen Händedruck, durch einen Blick erweichen lassen und gefangengeben? Er schämte sich vor diesem Weib, weil er sich vor sich selbst schämte, und wir haben gehört, daß dieses Gefühl der Scham, die Ungewißheit, wie man, ohne zu erröten, zurückkehren könne, schon oft aus einer kurzen Trennung in Unmut, eine dauernde gemacht und die schönsten Verhältnisse gebrochen habe.
Frau Rosel hatte sich einige Augenblicke an der Angst, an dem Gram ihres Fräuleins geweidet, dann aber siegte die ihr angeborne Gutmütigkeit über die kleine Schadenfreude, die in ihr aufgestiegen war. Sie faßte die Hand des Junkers fester: »Ihr werdet uns doch nicht schon wieder verlassen wollen, nachdem Ihr kaum ein Stündchen auf dem Lichtenstein verweilt habt? Ehe Ihr etwas zu Mittag gegessen, läßt Euch die alte Rosel gar nicht weiter, das ist gegen alle Sitte des Schlosses. Und den Herrn habt Ihr wahrscheinlich auch noch nicht begrüßt?«
Es war schon ein großer Gewinn für Mariens Sache, daß Georg sprach: »Ich habe ihn schon gesprochen, dort stehen noch die Becher, die wir zusammen leerten.«
»Nun?« fuhr die Alte fort, »da werdet Ihr wohl noch nicht von ihm Abschied genommen haben?«
»Nein, ich sollte ihn im Schloß erwarten.«
»Ei, wer wird dann gehen wollen«, sagte sie, und drängte ihn sanft in das Zimmer zurück; »das wär mir eine schöne Sitte. Der Herr könnte ja wunder meinen, was für einen sonderbaren Gast er beherbergte. Wer bei Tag kommt«, setzte sie mit einem stechenden Blick auf das Fräulein hinzu, »wer beim hellen Tag kommt, hat ein gut Gewissen und darf sich nicht wegschleichen wie der Dieb in der Nacht.«
Marie errötete und drückte die Hand des Jünglings und unwillkürlich mußte dieser lächeln, wenn er an den Irrtum der Alten dachte und die strafenden Blicke sah, die sie auf Marien warf.
»Ja, ja, wie ich sagte«, fuhr Frau Rosel fort, »braucht Euch nicht wegzustehlen wie der Dieb in der Nacht. Wäre vielleicht besser gewesen, Ihr wäret schon früher gekommen; im Sprichwort heißt es: ›Sieh für dich, irren ist mißlich; und wer will haben Ruh, bleib bei seiner Kuh!‹ Aber ich will nichts gesagt haben.«
»Nun ja«, sagte Marie, »du siehst, er bleibt da; was willst du nur mit deinen Reden und Sprüchlein? Du weißt selbst, sie passen nicht immer.«
»So? aber bisweilen treffen sie doch einen, dem es nicht lieb ist; aber ›Reu und guter Rat ist unnütz nach geschehener Tat‹. Ich weiß schon, Undank ist der Welt Lohn, ich kann ja schweigen; ›Wer will haben gute Ruh, der seh und hör und schweig dazu.‹«
»Nun so schweige immerhin«, entgegnete das Fräulein, etwas gereizt; »übrigens wirst du wohl tun, wenn du den Vater nicht geradezu merken läßt, daß du Herrn von Sturmfeder schon kennst; es wäre möglich, er könnte glauben, er sei wegen uns nach Lichtenstein gekommen.«
Frau Rosel kämpfte zwischen guter und böser Laune. Es tat ihr wohl, daß man sie brauche, daß man Stillschweigen von ihr erbitten müsse; auf der andern Seite war sie noch unwillig darüber, daß das Fräulein seit neuerer Zeit so wenig Vertrauen in sie gesetzt habe. Sie murmelte daher nur einige unverständliche Worte vor sich hin, indem sie die Stühle wieder an die Wände stellte, die Becher von dem Tisch nahm und die Flecken abwischte, die der Wein auf der Schieferplatte, womit der Tisch eingelegt war, zurückgelassen hatte. Marie gab Georg, der sich an ein Fenster gestellt hatte und noch nicht völlig mit sich und der Geliebten ausgesöhnt schien, einen Wink, den er nicht unbeachtet ließ. Ihm selbst war viel daran gelegen, daß Mariens Vater noch nichts um ihre Liebe wußte, er fürchtete, jener möchte es als einziges Motiv seines Übertritts zu Württemberg ansehen, er möchte ihn darum weniger günstig beurteilen, als er bisher getan. Dies erwägend, näherte sich Georg der alten Frau Rosel; er klopfte ihr traulich auf die Schultern und ihre Züge hellten sich zusehends auf. »Man muß gestehen«, sagte er freundlich, »Frau Rosalie hat eine schöne Haube; aber dies Band paßt doch wahrlich nicht dazu, es ist alt und verschossen.«
»Ei was!« sagte die Alte etwas ärgerlich, denn sie hatte sich wohl auf eine freundlichere Rede gefaßt gemacht, »was kümmert Euch meine Haube, ›ein jeder fege vor seiner Tür‹. ›Sieh auf dich und auf die Deinen, darnach schilt mich und die Meinen.‹ Ich bin ein armes Weib und kann nicht Staat machen wie eine Reichsgräfin. ›Wenn alle Leute wären gleich, und wären alle sämtlich reich, und wären all' zu Tisch gesessen, wer wollt auftragen Trinken und Essen?‹«
»Nun, so habe ich's nicht gemeint«, sagte Georg besänftigend, indem er eine Silbermünze aus seinem Beutelein zog; »aber mir zu Gefallen ändert Frau Rosalie schon ihr Band; und daß meine Forderung nicht gar zu unbillig klingt, wird sie diesen Dicktaler nicht verschmähen!«
Wer hat nicht an einem Oktobertag trotz Sturm und Wolken die Sonne durchdringen, und Gewölk und Nebel verjagen sehen? So ging es auch am Horizont der Frau Rosel freundlich auf. Die artige Weise des Junkers, ihr Lieblingsname Rosalie, der ihr viel wohltönender dünkte, als das verdorbene Rosel, und endlich der Dicktaler mit dem Krauskopf des Herzogs und dem Wappen von Teck – wie konnte sie so vielen Reizen widerstehen? »Ihr seid doch der alte freundliche Junker!« sagte sie, indem sie, sich tief verneigend, den Taler in die ungeheure lederne Tasche an ihrer Seite gleiten ließ, und den Saum von Georgs Mantel zum Munde führte. »Gerade so wußtet Ihr es in Tübingen zu machen. Stand ich am Jörgenbrunnen, ging ich von der Burgsteig hinab auf den Markt, richtig rief es hinter mir, ›Guten Morgen Frau Rosalie, und wie geht es dem Fräulein?‹ und wie oft und reich habt Ihr mich dort beschenkt; wenigstens zwei Dritteile von dem Rock, den ich hier trage, verdank ich Eurer Gnade!«
»Laß das, gute Frau«, unterbrach sie Georg. »Und was den Herrn betrifft, so wirst du –«
»Was meint Ihr!« erwiderte sie, indem sie die Augen halb zudrückte. »Habe Euch in meinem Leben nicht gesehen. Nein, da könnt Ihr Euch drauf verlassen. ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, und was mich nicht brennt, das blase ich nicht!‹«
Sie verließ bei diesen Worten das Zimmer, und stieg in den ersten Stock hinab, um dort in der Küche ihr Regiment zu verwalten.
Dankbar und freudig zog sie den Taler aus der Ledertasche, und besah ihn hin und her; sie pries bei sich die Freigebigkeit des wackern Junkers, und bedauerte ihn im stillen, daß seine Liebe so schlecht vergolten werde, denn daß es ihr Fräulein mit einem andern habe, war ihr ausgemachte Sache. Vor der Küche stand sie gedankenvoll still. Sie war im Zweifel mit sich, ob sie der Sache ihren Lauf lassen solle, oder ob es nicht besser wäre, dem Junker einige Winke über den nächtlichen Besucher zu geben? »Doch kommt Zeit, kommt Rat, vielleicht sieht er es selbst und braucht mich nicht dazu. Überdies -›Ein Rater in zweier Feinde Mitten, kann es leicht mit beiden verschütten‹; man kann warten und zusehen, denn ›Hitz im Rat, Eil in der Tat, gebären nichts als Schad.‹ ›Wer will haben gute Ruh, der seh und hör und – schweig dazu!‹«