Nach einer tödlich langen Viertelstunde schlug es im Dorfe eilf Uhr. Dies war die Zeit des nächtlichen Besuches, Georg schärfte sein Ohr, um zu vernehmen wann er komme. Nach wenigen Minuten hörte er oben den Hund anschlagen, zugleich rief über dem Graben eine tiefe Stimme: »Lichtenstein!«
»Wer da?« fragte man aus der Burg.
»Der Mann ist da!« antwortete jene Stimme, die Georg von seinem Besuch in der Höhle so wohlbekannt war.
Ein alter Mann, der Burgwart, kam aus einer Kasematte, die in den Grundfelsen gehauen war. Er öffnete mit einem wunderlich geformten Schlüssel das Schloß der Zugbrücke. Indem er noch damit beschäftigt war, stürzte in großen Sprüngen der Hund die Treppe herab; er winselte, er wedelte mit dem Schwanz, er hüpfte an dem Burgwart hinauf, als wolle er ihm behülflich sein, die Brücke für seinen Herrn herabzulassen. Und jetzt kam auch Marie, sie trug ein Windlicht, und leuchtete damit dem Alten, der mit seinem Aufschließen nicht zurechtzukommen schien.
»Spute dich, Balthasar!« flüsterte sie, »er wartet schon eine gute Weile, und draußen ist's kalt, und es weht ein garstiger Wind.«
»Jetzt nur noch die Kette los, gnädiges Fräulein«, antwortete er, »dann sollt Ihr gleich sehen, wie schön meine Brücke fällt. Ich habe auch, wie Ihr befohlen habt, die Fugen mit Öl geschmiert, daß sie nicht mehr garren, und die Frau Rosel aus ihrem sanften Schlaf aufwecken.«
Die Ketten rauschten in die Höhe, die Brücke senkte sich langsam nach außen, und legte sich über den Abgrund; der Mann aus der Höhle, in seinen groben Mantel eingehüllt, schritt herüber. Georg hatte sich das Bild dieses Mannes tief ins Herz geprägt, und doch überraschten ihn aufs neue seine auffallend kühnen Züge, sein gebietendes Auge, seine freie Stirne, das Kräftige, Gewaltige in seinen Bewegungen.
Der Schein des Windlichtes fiel auf ihn und Marie, und noch lange Jahre bewahrte Georg die Erinnerung an diese Gruppe. Die schlanke Gestalt der Geliebten, das dunkle Haar, dessen Flechten aufgegangen waren und nun um den zierlichen Hals herabströmten, die blendende Stirne, das sinnige, blaue Auge, dem die langen, dunklen Wimpern und die schöngeschwungenen Bogen der Brau'n einen eigentümlichen Reiz gaben, der kleine rote Mund, die zarte Farbe ihrer Wangen, dies alles, überstrahlt von dem Lichte, das sie in der Hand hielt, bewirkte, daß Georg glaubte, die Geliebte nie so reizend gesehen zu haben, als in diesem Augenblick, wo der Kontrast gegen die scharfen, kräftigen Formen des Mannes, der neben ihr stand, ihr zartes, liebliches Wesen noch mehr hervorhob.
Der nächtliche Gast half mit beinahe übermenschlicher Kraft dem alten Pförtner die Brücke wieder aufziehen. Dann zog sich der Alte zurück und Georg vernahm folgendes Gespräch:
»Ist Nachricht da von Tübingen? ist Marx Stumpf zurück? Ich lese Unglück in Euren Mienen!«
»Nein, Herr, er ist noch nicht zurück«, sagte Marie, »der Vater erwartet ihn aber noch diese Nacht.«
»Daß ihm der Teufel Füße mache! Ich muß warten, bis er kommt, und sollte es Tag darüber werden. – Hu! eine kalte Nacht, Fräulein«, sagte der Geächtete, »meine Schuhu und Käuzlein in der Nebelhöhle muß es auch gewaltig frieren, denn sie schrieen und jammerten in kläglichen Tönen, als ich heraufstieg.«
»Ja, es ist kalt«, antwortete sie, »um keinen Preis möchte ich mit Euch hinabsteigen; und wie schauerlich muß es sein, wenn die Käuzlein schreien; mir graut, wenn ich nur daran denke.«
»Wenn Junker Georg Euch begleitete, ginget Ihr doch mit«, erwiderte jener lächelnd, indem er das errötende Gesicht des Mädchens am Kinn ein wenig in die Höhe hob; »nicht wahr, mit dem ginget Ihr in die Hölle? Was das für eine Liebe sein muß! Weiß Gott, Euer Mund ist ganz wund; nein gar zu arg müßt Ihr es doch nicht machen mit Küssen.«
»Ach Herr!« flüsterte Marie, indem sich aufs neue eine dunkle Röte über die zarten Wangen goß; »wie mögt Ihr nur so sprechen. Wißt Ihr, daß ich gar nicht mehr herabkomme, Euch gar nicht mehr koche, wenn Ihr so von mir und dem Junker denket?«
»Nun, einen Scherz müßt Ihr mir schon gelten lassen«, sagte der Ritter, und kniff sie in die errötenden Wangen, »ich habe ja in meiner Behausung da unten so wenig Zeit und Gelegenheit zum Scherzen. Aber was gebt Ihr mir, wenn ich für den Junker ein gutes Wort einlege beim Vater, daß er ihn Euch zum Mann gibt? Ihr wißt, der Alte tut was ich haben will, und wenn ich ihm einen Schwiegersohn empfehle, nimmt er ihn unbesehen.«
Marie schlug die schönen Augen auf, und sah ihn mit freundlichen Blicken an. »Gnädigster Herr«, antwortete sie, »ich will es Euch nicht wehren, wenn Ihr für Georg ein gutes Wort sprechet; übrigens ist ihm der Vater schon sehr gewogen.«
»Ich frage, was ich für ein gutes Wort bekomme, alles hat seinen Preis; nun, was wird mir dafür?«
Marie schlug die Augen nieder. »Ein schöner Dank«, sagte sie; »aber kommt Herr, der Vater wird schon längst auf uns warten.«
Sie wollte vorangehen, der Geächtete aber ergriff ihre Hand und hielt sie auf. Georgs Herz pochte beinahe hörbar, es wurde ihm bald heiß bald kalt, er faßte den Torflügel, und wäre nahe daran gewesen, diese Fürsprache um einen fixen Preis zu verbitten.
»Warum so eilig?« hörte er den Mann der Höhle sagen. »Nun, sei es um ein Küßchen, so will ich loben und preisen, daß dein Vater sogleich den Pfaffen holen läßt, um das heilige Sakrament der Ehe an euch zu vollziehen.« Er senkte sein Haupt gegen Marie herab, Georg schwindelte es vor den Augen, er war im Begriff, aus seinem Hinterhalt hervorzubrechen. Das Fräulein aber sah jenen Mann mit einem strafenden Blicke an. »Das kann unmöglich Euer Gnaden Ernst sein«, sagte sie, »sonst hättet Ihr mich zum letztenmal gesehen.«
»Wenn Ihr wüßtet, wie erhaben und schön Euch dieser Trotz steht«, sagte der Ritter mit unerschütterlicher Freundlichkeit, »Ihr ginget den ganzen Tag im Zorn und in der Wut umher. Übrigens habt Ihr recht, wenn man schon einen andern so tief im Herzen hat, darf man keine solche Gunst mehr ausspenden. Aber feurige Kohlen will ich auf Euer Haupt sammeln, ich will dennoch den Fürsprecher machen. Und an Eurem Hochzeittag will ich bei Eurem Liebsten um einen Kuß anhalten, dann wollen wir sehen, wer recht behält.«
»Das könnet Ihr!« sagte Marie, indem sie ihm lächelnd ihre Hand entzog, und mit dem Licht voranging; »aber machet Euch immer auf eine abschlägige Antwort gefaßt, denn über diesen Punkt spaßt er nicht gerne.«
»Ja er ist verdammt eifersüchtig«, entgegnete der Ritter im Weiterschreiten; »ich könnte Euch davon eine Geschichte erzählen, die mir selbst mit ihm begegnet ist; aber ich habe versprochen zu schweigen. –«
Ihre Stimmen entfernten sich immer mehr und wurden undeutlicher. Georg schöpfte wieder freien Atem. Er lauschte und harrte noch in seiner Nische, bis er niemand mehr auf den Treppen und Gängen hörte. Dann verließ er seinen Platz und schlich nach seiner Kammer zurück. Die letzten Worte Mariens und des Geächteten lagen noch in seinen Ohren. Er schämte sich seiner Eifersucht, die ihn auch in dieser Nacht wieder unwillkürlich hingerissen hatte. Wenn er bedachte, in welch unwürdigem Verdacht er die Geliebte gehabt, und wie rein sie in diesem Augenblick vor ihm gestanden sei! er verbarg sein errötendes Gesicht tief in den Kissen, und erst spät entführte ihn der Schlummer diesen quälenden Gedanken.
Als er am andern Morgen in die Herrenstube hinabging, wo sich um sieben Uhr gewöhnlich die Familie zum Frühstück versammelte, kam ihm Marie mit verweinten Augen entgegen. Sie führte ihn auf die Seite und flüsterte ihm zu, »Tritt leise ein, Georg! der Ritter aus der Höhle ist im Zimmer; er ist vor einer Stunde ein wenig eingeschlummert; wir wollen ihm diese Ruhe gönnen!«