"Die Wertung ist sehr kompliziert", bemerkte Selene. "Es gibt einen Punkt für jeden Start, einen Punkt für jede Berührung, zwei Punkte für jede herbeigeführte Fehllandung, zehn Punkte, wenn man einen Gegner zu Boden zwingt, und unterschiedliche Strafpunkte für die verschiedenen Fouls."
"Wer zählt die Punkte?"
"Wir haben Schiedsrichter für die vorläufigen Entscheidungen; bei Differenzen werden Fernsehaufzeichnungen herangezogen."
Ein erregter Schrei klang auf, als ein Mädchen aus der blauen Mannschaft einem Jungen in Rot laut hörbar gegen die Flanke klatschte. Der Junge hatte sich zwar noch zur Seite geworfen, doch vergeblich, und als er nun unsicher nach einer Stange griff, stieß er ungeschickt mit dem Knie an die Wand.
"Wo hat er nur seine Augen?" fragte Selene aufgebracht. "Er hat sie überhaupt nicht kommen sehen."
Das Treiben wurde lebhafter, und der Mann von der Erde versuchte nicht länger Schritt zu halten mit dem verwirrenden Hin und Her. Von Zeit zu Zeit berührte ein Springer eine Stange, ohne sich halten zu können. Dann lehnten sich alle Zuschauer über das Geländer, als wollten sie sich fürsorglich mit in das Getümmel stürzen. Einmal erhielt Marco Fore einen Schlag gegen das Handgelenk, und jemand rief: "Foul!"
Fore griff daneben und stürzte ab. Sein Fall kam dem Mann von der Erde sehr langsam vor, und Fore wand sich agil hierhin und dorthin und versuchte eine Stange nach der anderen zu greifen, ohne es ganz zu schaffen. Die anderen warteten; der übrige Kampf schien zunächst unterbrochen.
Fore fiel immer schneller, obwohl er sich bereits zweimal abgebremst hatte, ohne wirklich zugreifen zu können.
Er hatte den Boden des Schachtes fast erreicht, als mit schneller, eleganter Seitwärtsbewegung sein rechter Fuß nach einem Griff angelte und er plötzlich in der Luft stoppte, kopfüber ausschwingend, etwa drei Meter über dem Boden. Mit ausgebreiteten Armen hing er dort, und Applaus klang auf. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder aufgerichtet und kletterte hastig nach oben. "War das wirklich ein Foul?" fragte der Mann von der Erde.
"Wenn Jean Wong Marcos Handgelenk umfaßt hat, anstatt es nur zu stoßen, war es ein Foul. Der Schiedsrichter hat allerdings auf faires Spiel erkannt, und ich glaube nicht, daß Marco Einspruch erhebt. Allerdings ist er tiefer gefallen, als er mußte. Er hat ein Faible für solche Rettungen in letzter Minute; eines Tages verrechnet er sich bestimmt und verletzt sich... Oh, oh."
Der Mann von der Erde sah fragend auf, doch Selene blickte in eine andere Richtung. Sie sagte: "Da ist jemand aus dem Büro des Hochkommissars. Er sucht bestimmt nach Ihnen."
"Wieso?"
"Ich wüßte nicht, wen er sonst hier suchen sollte. Sie sind hier der Fremdling."
"Aber es gibt doch gar keinen Grund..." begann der Mann von der Erde.
Und der Bote, der selbst wie ein Erdenmensch oder ein ErdImmigrant gebaut war und dem es sichtlich unangenehm war, von ein paar Dutzend schmalen, nackten Gestalten angestarrt
zu werden, die ihre Verachtung mit Gleichgültigkeit zu kaschieren schienen, kam direkt auf ihn zu.
"Hochkommissar Gottstein bittet, daß Sie mich begleiten..."
Barron Nevilles Unterkunft war weitaus spartanischer als Selenes Zimmer. Er hatte seine Bücher sichtbar ausgestellt, sein Computerschaltbrett in der Ecke stand offen, und auf seinem großen Tisch herrschte Unordnung. Seine Fenster waren leer.
Selene trat ein, verschränkte die Arme und sagte: "Wenn du so schlampig wohnst, Barron, wie kannst du dann deine Gedanken in Ordnung halten?"
"Ich komme zurecht", entgegnete Barron mürrisch. "Warum hast du das Erdchen nicht mitgebracht?"
"Der Hochkommissar ist schneller gewesen. Der neue Hochkommissar. "
"Gottstein?"
"Genau. Warum bist du nicht längst fertig?"
"Weil ich Zeit brauchte, um alles in Erfahrung zu bringen. Ich möchte nicht ins Ungewisse arbeiten."
"Nun, dann müssen wir eben warten", meinte Selene.
Neville kaute an einem Fingernagel und beäugte ernsthaft das Ergebnis. "Ich weiß nicht recht, ob mir die Sache schmeckt...Wie findest du ihn?"
"Er gefällt mir", antwortete Selene entschieden. "Für ein Erdchen war er ganz angenehm. Er ließ sich von mir herumführen. Er interessierte sich für alles. Er äußerte keine vorschnellen Urteile. Er war nicht hochnäsig... Und ich habe mir natürlich auch nicht die Mühe gemacht, ihn herauszufordern."
"Hat er noch Fragen über das Synchrotron gestellt?"
"Nein, aber das brauchte er auch nicht."
"Wieso?"
"Weil ich ihm sagte, daß du ihn sprechen wolltest und daß du Physiker bist. Ich nehme also an, daß er sich an dich wendet, wenn er noch etwas zu fragen hat."
"Fand er es nicht seltsam, ausgerechnet mit einer Touristenführerin zu sprechen, die zufällig einen Physiker kennt?"
"Warum denn? Ich sagte ihm, du wärst mein Sex-Partner. Und da die körperliche Zuneigung keine Schranken kennt, ist es doch nicht undenkbar, daß sich ein Physiker mit einer kleinen Touristenführerin einläßt."
"Das reicht, Selene."
"Oh. Schau, Barron, es will mir scheinen, wenn er wirklich irgendeine Absicht verfolgt, wenn er sich an mich heranmacht, um an dich heranzukommen, hätte er das doch irgendwie erkennen lassen. Je komplizierter und dümmer ein Plan ist, desto wackeliger steht er, und desto besorgter ist auch der Planende. Ich habe absichtlich gelassen getan. Ich redete über alles mögliche - nur nicht über das Protonensynchrotron. Ich nahm ihn mit zu einer Turnübung." "Und?"
"Und er war interessiert. Entspannt und interessiert. Was er auch im Sinne hat - etwas Kompliziertes ist es nicht."
"Bist du ganz sicher? Immerhin wurde er gleich vom Hochkommissar geangelt. Hältst du das für gut?"
"Warum sollte ich es für schlecht halten? Eine offene Einladung zu einem Treffen, vor ein paar Dutzend Lunariern ausgesprochen, ist nicht gerade ein Zeichen von Geheimniskrämerei."
Neville verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich zurück. "Selene, bitte versuch deine persönliche Meinung aus der Sache herauszuhalten, solange ich dich nicht darum bitte. Das regt mich immer auf. Der Mann ist überhaupt kein richtiger Physiker. Hat er das etwa behauptet?"
Selene überlegte. "Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, daß er Physiker wäre. Er stritt es nicht ab, aber ich erinnere mich auch an keine direkte Bestätigung. Und doch... und doch - ich bin sicher, daß es stimmt."
"Dann hat er dich durch sein Schweigen in die Irre geführt, Selene. Er mag sich wohl für einen Physiker halten, aber Tatsache ist, daß ihm die entsprechende Vorbildung fehlt und er auch nicht auf diesem Gebiet arbeitet. Er ist wissenschaftlich geschult, das will ich ihm zubilligen, aber er hat keine wissenschaftliche Position inne. Er bekommt auch keine. Auf der ganzen Erde gibt es kein Labor, das ihm Arbeitsraum zur Verfügung stellen würde. Er steht nämlich auf Fred Hallams Abschußliste, bei dem er sehr lange Spitzenmann gewesen ist."
"Bist du sicher?"
" Glaub' s mir. Ich habe mich überzeugt. Hast du mich nicht eben kritisiert, weil es so lange gedauert hat? Das alles klingt einfach zu gut, viel zu gut."
"Wieso zu gut? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst."
"Hast du nun nicht den Eindruck, daß wir ihm trauen könnten? Immerhin hat er Wut auf die Erde."
"So könnte man tatsächlich denken, wenn deine Informationen stimmen."
"Oh, meine Informationen stimmen schon - jedenfalls so weit, daß sie sich wirklich bestätigen, wenn man etwas tiefer gräbt. Aber vielleicht sollen wir so denken ..."
"Barron, du bist abscheulich! Wie kannst du nur hinter allem eine Verschwörung sehen! Ben machte wirklich nicht... "