Jedes Paar vollführte synchrone Bewegungen, die von Paar zu Paar in Anstieg und Fall komplizierter wurden. Ein Paar stieß sich sogar gleichzeitig ab, durchquerte den Tunnel in einer flachen Parabel und erreichte den Griff, den der andere soeben verlassen hatte. Dabei glitten die beiden in der Mitte aneinander vorbei, ohne sich zu berühren. Die Einlage wurde mit lautem Beifall quittiert.
»Vermutlich fehlt mir die Erfahrung, die Schwierigkeit dieser Kunst zu ermessen. Sind das alles eingeborene Lunarier?« fragte der Mann von der Erde.
»Das müssen sie schon sein«, antwortete Selene. »Die Turnhalle steht zwar allen Lunarbürgern zur Verfügung, und einige Immigranten machen sich auch ganz gut, aber bei dieser Virtuosität kann man davon ausgehen, daß die Teilnehmer auf dem Mond gezeugt und geboren sind. Sie haben die richtige Ausstattung dafür — mehr als ein Erdgeborener — und außerdem das richtige Kindheitstraining. Die meisten Teilnehmer sind unter achtzehn.«
»Es scheint nicht gerade ungefährlich zu sein — trotz der Mondschwerkraft.«
»Ab und zu gibt es Knochenbrüche. Ein Todesfall ist wohl noch nicht vorgekommen, aber ich erinnere mich, daß sich jemand mal das Rückgrat brach und hinterher gelähmt war. Ein schrecklicher Unfall; ich war auch noch dabei… Oh, schauen Sie, jetzt kommen die Impros.«
»Die was?«
»Die Improvisationen. Bisher waren die Übungen vorgeschrieben. Die Aufstiege erfolgten nach einem festen Schema.«
Der Trommelrhythmus schien jetzt leiser zu werden, während ein Mann emporstieg und sich plötzlich ins Freie stieß. Mit einer Hand fing er sich an einer Querstange, kreiste einmal darum und ließ los.
Der Mann von der Erde ließ sich keine Bewegung entgehen. »Verblüffend«, sagte er. »Er schwingt sich wie ein Gibbon um die Stangen.«
»Wie ein was?«
»Gibbon. Menschenaffe — der einzige Menschenaffe, der noch in freier Wildbahn existiert. Sie…« Er bemerkte Selenes Gesichtsausdruck und sagte: »Das sollte keine Beleidigung sein, Selene; Menschenaffen sind anmutige Tiere.«
Selene runzelte die Stirn. »Ich habe mal Bilder gesehen.«
»Aber sicher haben Sie noch keine Gibbons in Bewegung erlebt… Ich könnte mir wohl denken, daß Erdchen die Lunarier »Gibbons« nennen und es abwertend meinen, aber nichts hat mir ferner gelegen…«
Er lehnte mit beiden Ellenbogen auf dem Geländer und beobachtete die Bewegungen, die wie ein Lufttanz waren. Er fragte: »Wie leben die Erd-Immigranten hier, Selene? Ich meine Immigranten, die den Rest ihrer Tage auf dem Mond verbringen? Da ihnen die grundlegendsten lunarischen Fähigkeiten abgehen…«
»Das macht überhaupt keinen Unterschied. Immis sind vollwertige Bürger. Eine Diskriminierung gibt es nicht, jedenfalls keine rechtliche Diskriminierung.«
»Was soll das heißen, keine rechtliche Diskriminierung?«
»Nun, Sie haben es selbst gesagt. Es gibt Dinge, die Immis einfach nicht fertigbringen. Unterschiede bestehen also. Ihre medizinischen Probleme sind anders, und sie haben meistens auch eine schlechtere medizinische Vergangenheit. Wenn sie in mittlerem Alter zu uns kommen, sehen sie auch so aus — alt.«
Der Mann von der Erde senkte verlegen den Blick. »Können sie querheiraten? Ich meine, Immigranten und Lunarier?«
»Sicherlich. Ja, sie können Kinder zeugen.«
»Das meinte ich.«
»Natürlich. Warum sollte ein Immigrant keine guten Erbanlagen mitbringen? Himmel, mein Vater war auch ein Immi, wenn ich auch mütterlicherseits schon in der zweiten Generation Lunarier bin.«
»Da muß ihr Vater aber heraufgekommen sein, als er noch ziemlich… Oh, mein Gott…« Er erstarrte am Geländer, atmete zittrig ein. »Ich dachte, er würde die Stange verfehlen.«
»Keine Sorge«, entgegnete Selene. »Das ist Marco Fore. Er macht gern solche Mätzchen — ich meine, im letzten Augenblick erst zuzugreifen. Eigentlich ist das unschön, und ein wirklicher Champion tut es nicht. Trotzdem… Mein Vater war bei seiner Ankunft zweiundzwanzig.«
»So sollte es auch sein. Noch jung genug, um sich anpassen zu können, keine Gefühlsbindungen auf der Erde. Für das männliche Erdchen muß es sehr schön sein, eine geschlechtliche Beziehung mit einer…«
»Geschlechtliche Beziehung!« Mit ihrem Lächeln schien Selene einen Schock zu überspielen. »Sie glauben doch nicht etwa, daß mein Vater geschlechtliche Beziehungen zu meiner Mutter hatte! Wenn meine Mutter das hörte, würde sie Ihnen sofort gehörig den Kopf waschen.«
»Aber…«
»Künstliche Besamung, um alles in der Welt! Sex mit einem Erdenmann!«
Der Besucher blickte sie ernst an. »Ich dachte, es gäbe keine Diskriminierung?«
»Das ist doch keine Diskriminierung, das ist physikalische Tatsache. Ein Mann von der Erde kommt mit unserem Gravitationsfeld nicht zurecht. Wie geübt er auch sein mag, im Ansturm der Leidenschaft vergißt er sich vielleicht. Ich würde das Risiko jedenfalls nicht eingehen. Der ungeschickte Narr könnte sich glatt Arme oder Beine brechen — oder, was schlimmer wäre, mir das gleiche antun. Die Verbindung von Genen ist zwar denkbar, aber Sex ist eine ganz andere Sache.«
»Es tut mir leid, aber ist künstliche Besamung nicht verboten?«
Sie beobachtete gedankenverloren die Turner. »Das ist wieder Marco Fore. Solange er sich nicht produziert, ist er ganz gut, und seine Schwester steht ihm kaum nach. Wenn sie zusammenarbeiten, sind ihre Bewegungen das reinste Gedicht. Schauen Sie! Sie kommen zusammen hoch und umschwingen gleich die Stange, als wären sie eins. Er tut manchmal ein wenig großspurig, aber seine Muskelbeherrschung ist erstklassig… Ja, künstliche Besamung ist nach den Erdgesetzen verboten, aber wenn medizinische Gründe ins Spielkommen, ist sie erlaubt, und das ist natürlich oft der Fall, wie es jedenfalls heißt.«
Alle Akrobaten waren nun emporgestiegen und bildeten einen großen Kreis unterhalb des Geländers; die Roten auf der einen Seite, die Blauen auf der anderen. Sie hatten die Arme gehoben, und der Applaus dröhnte laut. Eine große Menschenmenge hatte sich am Geländer versammelt.
»Man sollte hier ein paar Sitze aufstellen«, sagte der Mann von der Erde.
»Aber nein. Das Ganze ist keine Vorstellung, sondern eine Turnübung. Wir wollen gar nicht mehr Zuschauer, als hier oben bequem unterkommen. Wir gehören da unten hin, nicht hier herauf.«
»Sie beherrschen das auch, Selene?«
»Sozusagen. Jeder Lunarier kann es. Ich bin natürlich nicht so gut wie sie. Ich habe noch in keiner Mannschaft mitgemacht…Jetzt kommt das Gerangel, das Spiel ohne Regeln, der wirklich gefährliche Teil. Alle zehn sind gleichzeitig in der Luft, und jede Seite versucht die Leute der Gegenseite in einen Fall zu drängen.«
»Einen wirklichen Fall?«
»So real wie möglich.«
»Geht das denn ohne Verletzungen ab?«
»Gelegentlich nicht. Theoretisch werden Gerangel nicht gern gesehen. Tatsächlich könnte man sie als Mätzchen bezeichnen, denn unsere Bevölkerung ist nicht so groß, daß wir jemanden ohne wirklichen Grund aus dem Verkehr ziehen können. Dennoch sind sie beliebt, und wir bringen einfach nicht die Stimmen für ein Verbot zusammen.«
»Wofür würden Sie stimmen, Selene?«
Selene errötete. »Ach, lassen wir das. Schauen Sie zu!«
Der Trommelrhythmus war nun donnernd laut, und die Gestalten im Schacht schössen pfeilschnell los. In der Mitte gab es ein wildes Durcheinander, doch als sich die Körper wieder trennten, hing jeder fest an einem Griff. Es folgte die Spannung des Wartens. Ein Mann sauste wieder los, dann ein zweiter, und wieder war die Luft von wirbelnden Körpern erfüllt. Immer neue Wechsel folgten.
»Die Wertung ist sehr kompliziert«, bemerkte Selene. »Es gibt einen Punkt für jeden Start, einen Punkt für jede Berührung, zwei Punkte für jede herbeigeführte Fehllandung, zehn Punkte, wenn man einen Gegner zu Boden zwingt, und unterschiedliche Strafpunkte für die verschiedenen Fouls.«