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Das Buch

Nach einer Blinddarmoperation ist Kims kleine Schwester nicht mehr aus der Narkose aufgewacht, sie liegt im Koma. Die Stimmung in der Familie ist gedrückt, als Kim an diesem Abend ins Bett geht. Da sieht er in einer Ecke seines Zimmers plötzlich einen alten Mann. Der Alte erklärt Kim, seine Schwester werde im Land Märchenmond vom bösen Boraas gefangengehalten. Mit einem Raumgleiter aus einem SF-Roman macht sich Kim sofort auf, um seine Schwester zu retten. Doch er hat Pech und landet mitten im Reich von Boraas, auf der besetzten Seite des friedlichen Märchenlandes. Unter großen Gefahren gelingt es Kim, vor Boraas zu fliehen, und in der Verkleidung eines feindlichen schwarzen Ritters gelangt er mit Boraas' Armee über das Schneegebirge nach Märchenmond. Dort erfährt er, daß er zunächst den König des Regenbogens suchen muß, der noch weit hinter dem Ende der Welt lebt. Zusammen mit seinen neuen Freunden macht sich Kim auf seinen abenteuerlichen Weg.

Die Autoren

Wolfgang Hohlbein, geboren 1953, ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren. Er und seine Frau Heike, die Mitverfasserin der märchenhaften Fantasy Romane, leben mit ihrer großen Familie in Neuss bei Düsseldorf.

I

»... Commander Arcanas Gesicht hatte in den letzten Minuten einen immer besorgteren Ausdruck angenommen. Auf seiner Stirn perlte ein Netz feiner, glitzernder Schweißtröpfchen, und der Blick seiner grauen Augen schien sich an der endlosen Panoramafläche des Bildschirms festzusaugen. Unnatürliche Stille hatte von der mit Menschen, Maschinen und blinkenden Computern vollgestopften Kampfzentrale der Warlord II Besitz ergriffen. Niemand redete, und selbst das dumpfe Dröhnen der Ionentriebwerke, das in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil des Lebens an Bord geworden war, schien mit einem Mal leiser geworden zu sein, als spüre selbst die seelenlose Maschine tief im Rumpf des gigantischen Raumschiffes die Gefahr, die sich über ihr und ihren Schöpfern zusammenballte...«

Kim sah von seinem Buch auf, als er das Geräusch der Haustür hörte. Er legte den Zeigefinger der linken Hand zwischen die Seiten, in denen er gerade gelesen hatte, klappte das Buch zu und ging damit zu seinem Schreibtisch hinüber. Auf der sorgfältig polierten Platte stapelten sich Schulbücher und -hefte, Papier, ein Radiergummi von der Form eines Miniaturfußballs und - säuberlich über den frischen Brandfleck gelegt, der als Folge eines etwas zu gut gelungenen Experimentes mit Watte, einem Brennglas und einer Handvoll abgebrochener Streichholzköpfchen zurückgeblieben war - ein Paket bunter Kunststofftrinkhalme. Er nahm ein loses Blatt, knickte es auf die passende Größe zusammen und legte es mit bedauerndem Achselzucken zwischen die Seiten, ehe er den Finger herausnahm und das Buch zum Regal zurücktrug. Auf dem überquellenden Bord stapelte sich eine Unmenge bedruckten Papiers: einige wenige Comics (die Reste seiner ehemals weitaus umfangreicheren Sammlung, mit einem Gummiband zusammengehalten und auf den äußersten Rand des Brettes verbannt), eine etwas größere Anzahl Taschenbücher, eine noch größere Anzahl Groschenhefte - wie sein Vater sie nannte - und ein gutes Dutzend teurer, leinengebundener Bände. Man sah den Büchern an, daß sie oft zur Hand genommen und gelesen wurden - den meisten jedenfalls. Unter den gebundenen Exemplaren gab es einige, die vollkommen neuwertig wirkten und es auch waren. Es waren Bücher, die er geschenkt bekommen hatte und die ihn nicht interessierten, er hatte sie nur anstandshalber zwischen seine übrigen Schätze gestellt, ohne die Absicht, sie auch zu lesen.

Unten im Flur wurden die schnellen Schritte seiner Mutter laut. Kim wandte sich mit einem Seufzer vom Bücherregal ab, ging zur Tür und kehrte dann noch einmal zu seinem Schreibtisch zurück, um das Chaos darauf etwas umzuschichten, so daß der Eindruck entstand, als ob er den ganzen Nachmittag gearbeitet hätte, statt in der neuesten Ausgabe der »Sternenkrieger« zu schmökern. Er klappte das Mathematikbuch an der mit einem Eselsohr markierten Stelle auf, schaltete den Taschenrechner ein und legte das engbekritzelte Blatt daneben, auf dem er bereits während der Mathestunde vergeblich versucht hatte, die Aufgabe zu lösen. Mathematik - und darüber hinaus galt das für jedes Unterrichtsfach, das irgendwie mit Zahlen zu tun hatte - war nicht seine Stärke. Er hatte vom ersten Schultag an damit auf Kriegsfuß gestanden, und in den siebeneinhalb Jahren, die seither verstrichen waren, hatte sich nichts daran geändert. Er mochte keine Zahlen, und er konnte einfach nicht einsehen, wozu, zum Teufel, er wissen mußte, wie man eine Gleichung mit zwei Unbekannten löste, wenn er einen Taschenrechner hatte.

Er musterte sein Arrangement kritisch, fügte noch einen frisch gespitzten Bleistift hinzu und wandte sich dann mit zufriedenem Nicken zur Tür. Was Hausaufgaben anging, verstanden seine Eltern keinen Spaß. Sicher würde sein Vater - wie fast jeden Tag - nach dem Abendessen nach seinem Hausaufgabenheft fragen und es stirnrunzelnd durchblättern. Nun ja - vielleicht würde er später noch einmal versuchen, diese vertrackte Aufgabe zu lösen. Und notfalls konnte er das Ergebnis noch immer am nächsten Morgen von einem seiner Klassenkameraden abschreiben.

Er drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf und ließ den Blick noch einmal bedauernd über das vollgestopfte Bücherbord streifen. Es half nichts - Commander Arcana würde bis morgen warten müssen, ehe er die Warlord II in das finale Gefecht gegen die telepathischen Pflanzenmonster führen konnte.

Kim zog die Tür hinter sich zu, lief die Treppe hinunter und nahm die letzten vier Stufen auf einmal. Er hatte richtig gehört. Seine Eltern waren zu Hause - beide. Mutters Trenchcoat hing in der Garderobe, daneben der zerschlissene Parka seines Vaters, den er schon trug, solange Kim sich erinnern konnte, und von dem er sich wahrscheinlich auch in hundert Jahren nicht trennen würde. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, und im Aschenbecher auf der Garderobe qualmte eine gerade angerauchte Zigarette.

Kim zog verwundert die Stirn kraus. Vater hatte sich vor fünf Monaten entschlossen, das Rauchen aufzugeben, und er hatte sich bis auf den heutigen Tag an seinen Vorsatz gehalten. Daß er jetzt wieder rauchte, war seltsam. Aber seltsam war auch, daß Vater um diese Zeit schon zu Hause war. Es war noch nicht einmal vier, und normalerweise kam er nie vor sechs aus dem Büro.

Die Eltern waren im Wohnzimmer. Kim konnte ihre Stimmen durch die angelehnte Tür hören, ohne die Worte zu verstehen. Er blickte noch einmal verwundert auf die qualmende Zigarette im Aschenbecher, hakte die Daumen hinter den Gürtel und betrat das Wohnzimmer.

Vater und Mutter saßen nebeneinander auf der Couch. Der Fernseher lief mit ausgeschaltetem Ton. Auf dem Tisch lag eine angebrochene Zigarettenpackung neben dem orangefarbenen Feuerzeug und einem sauberen Aschenbecher. Kim fiel auf, wie still es plötzlich war. Seine Eltern hatten schlagartig aufgehört zu reden, als er ins Zimmer gekommen war, und das einzige Geräusch, das noch zu hören war, war das leise Ticken der altmodischen Standuhr an der Südwand des Zimmers.

»Hallo, Kim«, sagte Mutter leise. Sie setzte sich hastig auf, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und faltete die Hände auf den Knien. »Ich... ich dachte, du wärest in deinem Zimmer, und...«

Kim blinzelte verwundert. Es kam selten vor, daß seine Mutter ins Stottern geriet. Sie war eine ruhige und beherrschte Frau, die sich jedes Wort, das sie sprach, genau überlegte.

»Hast du... deine Hausaufgaben fertig?« fragte sie.

Kim nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und murmelte etwas, was sich wie »ja« anhörte, aber im Zweifelsfall auch »fast« heißen konnte.

Vater seufzte. Das brüchige Leder der Couch knarrte, als er sich aufsetzte und umständlich nach Zigaretten und Feuerzeug langte. Kim trat verlegen auf der Stelle und zog die Daumen hinter dem Gürtel hervor. Er wußte plötzlich, warum seine Eltern so nervös waren.