Kims Blick tastete verzweifelt an der Wand entlang. Nirgendwo gab es einen Ausweg oder eine Stelle, wo er hätte hinaufklettern können. Die Wand war spiegelglatt. Nur neben ihm, knapp hinter der Biegung, befand sich eine niedrige, flache Nische, in die er sich vielleicht hineinquetschen konnte. Aber spätestens wenn er sein Pferd wendete, um zum Ausgang zurückzureiten, würde ihn der schwarze Reiter entdecken. Dennoch war es die einzige Möglichkeit.
Kim zwängte sich in die enge Nische und wartete mit angehaltenem Atem, bis der Schwarze an ihm vorüber war.
Der Reiter ritt bis zum Ende der Schlucht, zog sein Schwert aus der Scheide und stieß mit der Spitze ein paarmal prüfend gegen den Fels.
Als er das Pferd wendete, sprang Kim ihn mit weit ausgebreiteten Armen an und riß ihn aus dem Sattel.
Der Schwarze stieß einen Laut der Überraschung aus, schlug mit dem Schwert in die leere Luft und versetzte Kim einen Ellbogenstoß, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und ihn halb betäubt zurücktaumeln ließ. Das Pferd schrie erschrocken, tänzelte rückwärts und stieg dann auf die Hinterbeine hoch. Seine Hufe wirbelten wie kleine, tödliche Hämmer durch die Luft. Kim duckte sich, als er die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein Huf schrammte über seine Schulter und schmetterte ihn zu Boden.
Sein Gegner hatte weniger Glück. Er hatte sich halb aufgerichtet und das Schwert zu einem tödlichen Streich erhoben, als ihn der Vorderhuf des Tieres traf. Es dröhnte, als schlüge ein riesiger Vorschlaghammer auf einen noch riesigeren Amboß. Der Schwarze riß die Arme hoch und fiel wie vom Blitz gefällt hintenüber.
Kim blieb noch eine Weile reglos liegen, ehe er es wagte, sich vorsichtig auf Hände und Knie zu erheben. Das Pferd tänzelte noch immer auf der Stelle. Seine großen, dunklen Augen schienen Kim durchdringend anzustarren, und die Vorderhufe scharrten drohend über den harten Fels.
»Nur ruhig, mein Junge«, murmelte Kim. »Nur ruhig. Niemand tut dir etwas.« Zu seiner Überraschung schien das Roß tatsächlich auf seine Worte oder wenigstens auf den Klang seiner Stimme zu reagieren. Es hörte auf zu schnauben. Seine Ohren zuckten.
Kim stand vorsichtig auf und schob sich, den Rücken gegen den kalten Stein gepreßt, näher an den am Boden liegenden schwarzen Reiter heran. Er bückte sich, tastete über die glatte schwarze Rüstung und überlegte fieberhaft. Für einen Moment war er in Sicherheit, aber es war eine höchst zweifelhafte Sicherheit. Die schwarzen Reiter würden schnell bemerken, daß einer der Ihren fehlte, und wenn sie entdeckten, was geschehen war, war er verloren. Selbst wenn er inzwischen aus dieser Falle heraus war, würden sie nicht ruhen, bevor sie den Hang Zentimeter für Zentimeter abgesucht und ihn aufgespürt hatten. Nein - es gab nur eine einzige Möglichkeit. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber er sah ein, daß er keine andere Wahl hatte.
Mit einem entschlossenen Ruck drehte Kim den Schwarzen auf den Bauch und begann ihm die Rüstung auszuziehen. Er hatte Glück im Unglück gehabt - der Reiter war kaum größer als er selbst, und in der Dunkelheit würde der geringe Unterschied nicht auffallen. Kim löste den Brustpanzer, hob den Helm ab und schälte das Wesen ächzend aus den stählernen Beinkleidern. Der Körper darunter war nicht menschlich. Schwarzes, drahtiges Haar bedeckte einen muskulösen, affenartigen Körper. Kim schauderte, als er die gebogenen Klauen an den Händen sah. Das Gesicht war flach und ausdruckslos, und als Kim ein Augenlid anhob, sah er, daß der Unmensch schwarze, pupillenlose Augen hatte.
Kim riß sein Untergewand in Streifen, fesselte den Schwarzen sorgfältig und verpaßte ihm noch einen Knebel. Wahrscheinlich würde er sich trotzdem befreien können, aber Kim hoffte, daß er selbst bis dahin weit genug entfernt war.
Er warf einen Blick zum Ausgang der Schlucht zurück und begann dann rasch, die Rüstung überzustreifen. Zu seiner Verwunderung paßte sie, als wäre sie eigens für ihn angefertigt worden. Er hob das Schwert vom Boden auf, steckte es in die Scheide und ging dann auf das Pferd zu. Das Tier scheute, warf den Kopf zurück und versuchte zu beißen.
»Ruhig, Junge«, murmelte Kim wieder. »Nur ruhig. Niemand tut dir etwas.« Er streckte die Hand aus, machte einen Schritt und redete unaufhörlich weiter. »Ich will dir nichts tun. Bleib ruhig, ganz ruhig. Ich weiß, daß ich nicht wie dein Herr rieche, aber ich will dir nichts Böses.« So redete er, bis er nahe genug herangekommen war, um dem Pferd beruhigend die Hand auf den Hals zu legen. Es zuckte unter der Berührung, ließ es aber geschehen. Kim redete weiter und griff zögernd nach dem Zügel. Er war noch nie geritten, aber er mußte es einfach versuchen. Er legte dem Tier die Hand zwischen die Ohren, kraulte seine Mähne und zog sich dann mit einer ungeschickten Bewegung in den Sattel. Das Pferd scheute wieder und hätte ihn um ein Haar abgeworfen, aber Kim klammerte sich in der dichten Mähne fest und hielt sich mit aller Kraft oben.
Sekundenlang saß er bewegungslos im Sattel und wunderte sich, daß er tatsächlich oben war. Dann tätschelte er dem Tier noch einmal beruhigend den Hals und zog am Zügel. »Komm schon, Junge«, murmelte er. »Dreh dich rum.«
Das Wunder geschah. Das Pferd wieherte leise, bewegte den Kopf und drehte sich gehorsam herum. Dann setzte es sich ohne Kims Zutun in Richtung Ausgang in Bewegung. Kim ritt bis zur Weggabelung und hielt an. Hallender Hufschlag drang an sein Ohr und bildete einen Gegentakt zum wilden Hämmern seines Herzens. Er drehte den Kopf und gewahrte ein halbes Dutzend schwarzer Reiter, die den Hang heruntergaloppierten. Sein Pferd setzte sich von selbst in Bewegung, als die Reiter an ihm vorüberpreschten, und noch bevor Kim richtig wußte, wie ihm geschah, fand er sich inmitten der wilden Jagd. Seine Hände krampften sich um die Zügel, aber nicht, um das Pferd zu lenken, sondern nur, um sich daran festzuhalten. Hätte das Tier nicht von allein seinen Platz in der Gruppe gefunden, wäre er rettungslos verloren gewesen.
Sie ritten in halsbrecherischem Tempo ins Tal zurück, und Kim mußte sich mit aller Kraft in der Mähne des Pferdes festklammern, um nicht abgeworfen zu werden. Sie galoppierten den Weg hinab, stießen auf eine andere Gruppe schwarzer Reiter und schlugen dann zu Kims Entsetzen den Weg zum Lager ein.
Unter der schwarzen Rüstung brach ihm der Schweiß aus. Sein Streich war gewagt genug gewesen - aber mitten ins Lager der Schwarzen zu reiten wäre der reine Selbstmord! Er mußte weg, egal wie!
Verzweifelt hielt er nach einem Fluchtweg Ausschau. Das Lager der Schwarzen befand sich unmittelbar am Waldrand, aber Kim ritt an der entgegengesetzten Flanke der Kolonne. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Pferd herumzureißen und in wildem Galopp in den Wald zu sprengen, verwarf die Idee aber sofort wieder. Er konnte sich mit Müh und Not im Sattel halten, und selbst wenn das Pferd seinen Befehlen gehorchte, hätten ihn die anderen eingeholt, ehe er bis zehn zählen konnte.
Sie ritten in das Lager ein. Es bestand aus zwei halbkreisförmigen, weit auseinandergezogenen Zeltreihen, die sich um ein großes Lagerfeuer gruppierten. Ihr Anführer rief einen scharfen Befehl, worauf sich die geordnete Formation der Gruppe auflöste und jeder für sich seinem Platz zustrebte. Kim war in diesem Moment vollkommen hilflos. Er ließ einfach die Zügel fahren, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte darauf, daß sein Pferd besser als er wußte, was zu tun war.
Einer der Gepanzerten ritt an Kim heran, knuffte ihn mit der Faust in die Seite und sagte ein paar Worte in seiner dunklen, schnellen Sprache. Kim antwortete nicht, worauf der andere seine Worte wiederholte. Kim hüllte sich weiter in Schweigen, während sein Herz so rasend schnell zu jagen begann, daß er meinte, das Geräusch müsse wie dumpfer Trommelwirbel im ganzen Lager zu hören sein. Der Schwarze sah ihn einen Moment abwartend an, murmelte etwas und wandte sich achselzuckend ab.