Kim atmete auf. Der Zwischenfall hatte ihm bewiesen, wie gefährlich seine Lage war.
Er trabte in einer Gruppe von sieben oder acht schwarzen Reitern zum Ende des Lagers. Die Pferde blieben von selbst stehen, und Kim schwang sich, dem Beispiel der anderen folgend, aus dem Sattel. Er stellte sich dabei so ungeschickt an, daß er um ein Haar gestürzt wäre, aber keiner der andern schien Notiz davon zu nehmen.
Die Pferde trotteten zu einem Pferch, der am Waldrand errichtet worden war. Alle Pferde - bis auf seines. Es blieb einfach stehen, scharrte mit den Vorderhufen im Sand und begann dann den Kopf an seiner Rüstung zu reiben. Kim merkte entsetzt, wie einer der umstehenden Krieger den Kopf hob und verwundert zu ihm herübersah.
Er tupfte dem Pferd sanft auf die Nüstern. »Geh, Junge«, flüsterte er. »Bitte, bitte, geh. Geh zu deinen Kameraden. Du bringst mich um, wenn du hierbleibst.«
Das Pferd schnaubte leise und setzte sich widerwillig in Bewegung, jedoch nicht ohne immer wieder stehenzubleiben und den Kopf zu wenden, fast als wollte es sich überzeugen, daß er nicht weglief.
Das Lagerfeuer brannte hell und mit prasselnder Flamme. Der zuckende, orangerote Schein vertrieb die Kälte und die Dunkelheit. Die Schwarzen hatten ihre Proviantbündel hervorgeholt und begannen zu essen. Kim streifte hungrig und durstig durch das Lager - zum einen, um weniger aufzufallen, zum andern, um etwas über dessen Organisation herauszufinden. Jedoch ohne viel Erfolg. Nur ein Teil der schwarzen Krieger schlief in Zelten; die anderen legten sich zum Schlafen nieder, wo sie gerade standen oder saßen. Nachdem sie fertiggegessen hatten, wickelten sie sich in ihre Decken ein oder rollten sich einfach auf dem nackten Boden zusammen.
Nach beendetem Rundgang kehrte Kim noch einmal zu den Pferden zurück. Der Pferch, in dem sie untergebracht waren, befand sich dicht am Waldrand. Hier in der Nähe würde er sich hinlegen und schlafend stellen. Später des Nachts, wenn alles schlief, ergab sich vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht. Aber noch war es nicht soweit. Kim fand keine Ruhe und schlenderte scheinbar ziellos zwischen den Zelten umher. Er nickte einem Schwarzen, der ihn ansprach, stumm zu und hockte sich schließlich im Schatten eines Zeltes nieder. Zwischen den Zelten glommen jetzt etliche kleinere Feuer auf. Stimmengemurmel, das Klirren von Metall und das typische Knarren von altem Leder erfüllten die Luft. In Kims unmittelbarer Nachbarschaft begannen drei hünenhafte Schwarze eine Decke auszubreiten und zu würfeln.
Kim legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zu den Sternen empor. Plötzlich fühlte er sich, trotz seiner Nervosität und Angst, unsäglich müde und erschöpft und mußte mit aller Macht gegen den Schlaf ankämpfen.
Lärm ließ ihn auffahren. Die drei Krieger waren über ihrem Würfelspiel in Streit geraten. Einer von ihnen war aufgesprungen und hatte sein Schwert gezogen, und die beiden anderen redeten aufgeregt auf ihn ein.
Kim richtete sich auf die Ellbogen auf und verfolgte neugierig, was weiter geschah.
Es ging alles ganz schnell. Der Krieger stieß einen wütenden Schrei aus, schwang seine Waffe und sprang auf den einen der beiden Gefährten zu. Das Schwert sauste herab, schrammte dem Gegner über den Brustpanzer und glitt ab. Der andere prallte zurück, zog ebenfalls seine Waffe, und schon war ein wilder Kampf im Gange.
Kim erwartete, daß sich die anderen einmischen und den Streit schlichten würden, aber nichts dergleichen geschah. Es fanden sich zwar immer mehr Zuschauer ein, die aus der Dunkelheit auftauchten und sich um die beiden Kämpfenden scharten, aber keiner rührte einen Finger, um einzugreifen.
Der Kampf dauerte nicht lange. Das Schwert des Angreifers zuckte plötzlich vor und bohrte sich in die Lücke zwischen Helm und Brustpanzer des anderen. Der Getroffene taumelte zurück, ließ seine Waffe fallen und kippte dann wie ein gefällter Baum hintenüber.
Die Zuschauer begannen sich zu zerstreuen. Der Krieger, der den Streit begonnen hatte, schob seine Waffe in die Scheide zurück, ging zu seiner Decke und fuhr fort, mit seinem Kameraden zu würfeln, als wäre nichts geschehen.
Kim schauderte. In diesem Land schien ein Menschenleben wirklich nicht viel zu zählen.
Er ließ sich zurücksinken, rollte sich auf die Seite und zog die Beine an den Körper. Die schwarze Rüstung hielt erstaunlich warm, und nach einer Weile begann sich wieder wohlige Müdigkeit in ihm auszubreiten. Er schloß die Augen, döste einen Moment vor sich hin und schrak auf, als er spürte, daß er im Begriff war, tatsächlich einzuschlafen.
Im Lager breitete sich allmählich Ruhe aus. Die Feuer erloschen eins nach dem andern, und die Stimmen verstummten. Schließlich - es ging schon gegen Mitternacht - war außer dem Heulen des Windes und einem gelegentlichen Scharren aus dem Pferdepferch kein Laut mehr zu hören. Kim schlief nicht. Zu Anfang hatte er sich mit Gewalt wachhalten müssen, aber seine Müdigkeit schlug jetzt ins Gegenteil um. Plötzlich war er von einer Unrast erfüllt, daß er Mühe hatte, still liegenzubleiben.
Die ganze Nacht lag er wach und wartete auf eine Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen.
Aber es ergab sich keine. Das Lager schlief, jedoch ein halbes Dutzend Wächter patrouillierten ständig um den Platz und machten jeden Fluchtversuch unmöglich. Dabei gewann Kim mehr und mehr den Eindruck, daß die Wächter weniger nach Feinden von außen ausschauten, als vielmehr ihre schlafenden Kameraden scharf im Auge behielten. Er begann zu begreifen, daß es wesentlich einfacher gewesen war, in das Lager hinein-, als wieder herauszugelangen.
Kim war froh, als sie am Morgen durch einen kurzen, mißtönenden Trompetenstoß geweckt wurden. Er war als einer der ersten auf den Beinen und begann sich nützlich zu machen. Nicht, daß er wirklich wußte, was zu tun war; er eilte einfach hin und her, trug Holz und Ausrüstungsgegenstände zusammen, packte da und dort mit zu und tat alles, um in Bewegung zu bleiben. Und sein Verhalten schien sich als richtig zu erweisen. Niemand nahm Notiz von ihm. Schon nach wenigen Minuten war das Lager abgebaut und alle Spuren ihres nächtlichen Aufenthalts beseitigt.
Ein zweiter Trompetenstoß ertönte, und einer der Krieger öffnete den Pferch. Die Pferde quollen wie eine schwarze Woge lebendiger Leiber hervor, trabten umher und suchten nach ihren Herren.
Auch Kims Pferd kam angaloppiert, blieb vor ihm stehen und stieß ihn spielerisch mit der Nase vor die Brust. Der Stoß war jedoch so heftig, daß Kim zurücktaumelte und gegen einen der schwarzen Krieger stieß. Dieser fuhr herum, knurrte ärgerlich und schubste Kim unsanft gegen sein Pferd. Kim griff automatisch nach dem Sattel und verhinderte so im letzten Augenblick, daß er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
Eine riesige Hand legte sich auf seine Schulter und zerrte ihn brutal herum. Kim sah auf und blickte in die schwarze Gesichtsmaske eines Kriegers, der ihn um fast einen halben Meter überragte.
Der Riese fauchte ihn an, stieß ihn vor die Brust und sagte etwas, was Kim nicht verstand. Aber es war klar, daß er auf Antwort wartete.
Kim überlegte blitzschnell. Der Vorfall vom vergangenen Abend hatte ihm gezeigt, wie rasch hier ein harmloser Streit zu einer tödlichen Auseinandersetzung werden konnte. Er hielt dem Blick des Riesen einen Moment lang stand, wandte sich dann schulterzuckend ab und zog sich ungeschickt in den Sattel. Der Krieger griff nach seinem Gürtel und versuchte ihn herabzuzerren. Kim schüttelte die Hand ab und trat dem Riesen mit aller Kraft vor den Brustpanzer. Der Riese wankte zurück, setzte sich wuchtig auf den Hosenboden und kam mit einem wütenden Kreischen wieder hoch.
Kims Hand zuckte zum Schwert, doch sein Pferd kam ihm zuvor. Es wieherte ärgerlich, wirbelte auf der Stelle herum und trat mit den Hinterläufen aus. Der Schwarze wurde von den Füßen gerissen, überschlug sich in der Luft und landete krachend ein zweites Mal im Sand.