Diesmal dauerte es länger, bis er sich wieder erhob. Die pupillenlosen Augen unter dem Visier blitzten haßerfüllt auf. Langsam erhob er sich auf ein Knie, zog seine Waffe aus dem Gürtel und stand dann ganz auf.
In diesem Augenblick tauchte eine Gruppe hünenhafter schwarzer Ritter hinter ihm auf. Der Krieger zuckte zusammen und senkte unterwürfig den Kopf.
Einer der Ritter sagte etwas zu ihm, worauf er regelrecht zusammenzuschrumpfen schien. Er schob seine Waffe in den Gürtel zurück, bedachte Kim mit einem letzten, haßerfüllten Blick und stelzte unter dem schadenfrohen Gelächter der anderen zu seinem Pferd.
Sie brachen auf. Das schwarze Heer formierte sich zu einer vierfach gestaffelten Kette und zog in östlicher Richtung weiter. Eine Stunde oder länger entfernten sie sich vom Gebirge, dann ritten sie durch einen kleinen Wald, rasteten wenige Minuten und tränkten ihre Tiere an einem schlammigen Bach. Danach zogen sie weiter, jetzt wieder westwärts, dem Gebirge zu. Kim lauerte die ganze Zeit auf eine Gelegenheit, sich unauffällig abzusetzen, doch wieder vergeblich. Ständig patrouillierten Wachen rechts und links der gemächlich dahinziehenden Kolonne. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre - sein Fehlen wäre in der mathematischen Präzision der Marschordnung rasch aufgefallen, und sie hätten ihn in kürzester Zeit wieder eingefangen.
Gegen Mittag erreichten sie einen flachen, von Hügeln umgebenen See, an dem sie ihre Pferde abermals tränkten und selbst für eine halbe Stunde rasteten. Dann ging der Marsch weiter, nun stetig nach Süden, parallel zur himmelstürmenden Mauer des Schattengebirges. Manchmal - einem System folgend, das Kim nicht verstand, vielleicht aber auch vollkommen willkürlich - ließ der Anführer anhalten und kleine Gruppen der schwarzen Reiter in die Berge ausschwärmen. Doch Kim gelang es jedesmal, sich zu drücken. Schließlich, am späten Nachmittag, als die Sonne bereits wieder in die unendlichen Gipfel des Gebirges eintauchte und die Schatten lang und immer länger wurden, erreichte die Kolonne eine Hügelkuppe und hielt an.
Der Anblick verschlug Kim den Atem.
Vor ihnen fiel das Land zu einem weiten, schüsselförmigen Tal ab, das sich nach Westen, zum Gebirge hin, merklich verengte und in einer schmalen Schlucht mit senkrecht aufstrebenden Felswänden auslief.
Das Tal war schwarz von Kriegern. Wie Ameisen wimmelten sie zu Tausenden tief unter ihnen, ballten sich zu Gruppen zusammen, formierten sich zu Zügen und wogten in einer langsamen, majestätischen Bewegung der Schlucht entgegen. Unzählige Zelte und Feuerstellen bedeckten den Talboden. Kim versuchte die Zahl der Soldaten zu schätzen, aber es war unmöglich. Es mußten Tausende, Zigtausende sein, ein gewaltiges Heer, das sich in diesem Tal versammelt hatte und wie ein schwarzer, aufgestauter See, der sich in einen schmalen Abfluß ergießt, westwärts durch die Schlucht zog.
Sie begannen langsam den Hügel hinunterzureiten. Ein häßliches, schrilles Krächzen durchschnitt die Luft. Kim hob den Kopf und sah einen Schwarm riesiger schwarzer Vögel, die mit trägen Flügelschlägen über dem Tal kreisten. Sie ritten weiter und passierten die ersten Zelte, aber ihr Anführer machte keine Anstalten anzuhalten, sondern führte seine Reiter zwischen Zelten und Lagerfeuern hindurch bis fast in die Mitte des Tales, wo eine flache, mit mächtigen Balken abgestützte Hügelschanze errichtet worden war. Eine Reihe schwarzer Wächter umstand den künstlichen Hügel in weitem Kreis, und hinter dem Kordon erstreckte sich ein mit einer öligen Flüssigkeit gefüllter Graben, wohl eine Art provisorischer Verteidigungsanlage, bei deren Anblick sich Kim unwillkürlich fragte, wovor sich die Herren dieser schwarzen Armee inmitten ihres Heeres wohl fürchteten.
Kim zwang sich, wenigstens für einen Augenblick seine Angst zu vergessen und aufmerksam auf jede noch so winzige Kleinigkeit zu achten. Er ahnte, daß sich eine Gelegenheit wie diese wohl nicht so bald wieder bieten würde.
Sie zogen dicht am Kordon der Wächter vorbei. Ihr Anführer tauschte ein paar Worte mit einem der Wachtposten und ritt dann in gemächlichem Tempo weiter, während Kim sich auf die kleine Zeltstadt auf dem Hügel konzentrierte. Auch dort waren schwarze Ritter zu sehen, aber sie schienen größer und - wie Kim fand - irgendwie furchteinflößender als die, unter denen er sich bewegte.
Plötzlich zuckte Kim zusammen. Zwischen den riesigen Gestalten ragte eine noch riesigere hervor. Die Rüstung dieses Ritters unterschied sich in nichts von denen der anderen, aber Kim erkannte ihn trotzdem.
Baron Kart!
Kim stockte vor Schreck der Atem. Der Baron schritt unruhig zwischen den Zelten auf und ab, fuhr einen seiner Leute an und scheuchte einige andere mit einer unwilligen Bewegung zur Seite. Eines der Zelte wurde geöffnet, und unter dem Eingang erschien eine hagere, in einen wallenden schwarzen Mantel gehüllte Gestalt.
Boraas.
Kim mußte all seine Willenskraft aufbieten, um ruhig im Sattel sitzen zu bleiben. Der Magier trat aus dem Zelt und ließ den Blick über die unabsehbare Masse seiner Krieger gleiten. Für einen schrecklichen Moment schien es Kim, als ob der Blick dieser grauen, harten Augen forschend auf ihm ruhte. Dann drehte sich Boraas mit einer ruckartigen Bewegung um und sagte etwas zu jemandem hinter sich im Zelt. Ein schwarzer Ritter trat daraus hervor und stellte sich dem Magier an die Seite.
Kim schauderte. Der Ritter war kleiner als Boraas, kaum größer als er selbst, und trug genau wie die anderen eine schmucklose schwarze Rüstung. Aber er hatte etwas an sich, was ihn von den übrigen Kriegern unterschied. Trotz seiner geringen Körpergröße und der schmalen Schultern wirkte er gefährlicher und böser als alle anderen. Es war, als sei er von einer unsichtbaren schwarzen Aura umgeben, einem Fluidum des Bösen, das wie ein ins Negative verkehrter Heiligenschein von seiner schwarzen Rüstung ausstrahlte.
Dann waren sie vorbeigezogen, und der schwarze Ritter entschwand Kims Blicken. Aber der Eindruck wirkte noch lange in ihm nach. Kim hatte plötzlich das Gefühl, nur noch mit Mühe atmen zu können. In seinem Inneren schien etwas zu Eis erstarrt zu sein, als hätte der bloße Anblick dieser düsteren schwarzen Gestalt ausgereicht, ein Stück seiner Seele absterben zu lassen.
Sie ritten bis ins vordere Drittel des Tales und hielten dann endgültig an. Der Anführer rief einige Kommandos, alle saßen ab, und zwei der Krieger machten die Runde und sammelten die Pferde ein, um sie in eine große Koppel nahe dem Talschluß zu treiben.
Der Tag endete wie der vorige. Die Männer verteilten sich, spielten, tranken und hockten einfach beisammen und trieben ihre rauhen Scherze. Kim fand bald heraus, daß er sich ungehindert im Lager bewegen konnte, aber er wagte es nicht, sich viel weiter als hundert Meter von seiner Gruppe zu entfernen. Für ihn sahen die Krieger alle gleich aus, und wenn er sich verirrte, würde er nie wieder zu seinem Haufen zurückfinden. Er schien bei der Wahl seines Opfers wirklich Glück gehabt zu haben - der Reiter, dessen Platz er einnahm, hatte offensichtlich keine Freunde, und sein schweigsames, zurückgezogenes Verhalten erregte keine Aufmerksamkeit.
Ungeduldig erwartete Kim den Einbruch der Nacht. Auf den das Tal umgebenden Hügeln glommen unzählige Feuer auf, und Kims Fluchtpläne zerrannen in nichts. Es war unmöglich, aus diesem Lager zu entkommen. Er würde sich auf Gedeih und Verderb weiter seinem Glück anvertrauen und darauf warten müssen, daß das Heer weiterzog und sich eine bessere Gelegenheit bot.
Eine schreckliche Vision stieg vor seinen Augen auf. Er sah sich selbst, gekleidet in diese schwarze, finstere Rüstung, eingekeilt in eine unendliche Reihe galoppierender Reiter, Themistokles und seine Verbündeten angreifend. Womöglich, dachte er, geschah es tatsächlich, daß er mit diesem gigantischen Heer weiter und weiter nach Westen zog und sich unversehens in einer Schlacht gegen jene wiederfand, die ihn gerufen hatten.