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Es begann zu regnen, als sie durch den schmalen Vorgarten zum Wagen gingen. Der Himmel war schon den ganzen Tag über bedeckt gewesen, und obwohl die tiefhängenden Regenwolken immer wieder aufrissen und die wärmenden Sonnenstrahlen durchließen, war es kühl geworden. Der Herbst kam früh in diesem Jahr. Die Vorgärten der hübschen kleinen Einfamilienhäuser, die ihre Straße säumten, standen noch in voller Blüte, aber der Wetterbericht im Radio hatte für die kommenden Nächte Frost angekündigt, und der Regen, der jetzt in großen, schweren Tropfen niederklatschte, schien bereits eine Vorahnung des nahenden Winters mit sich zu tragen.

Vater schlug den Mantelkragen hoch und lief zum Wagen voraus. Er öffnete die Tür, warf sich mit einem Satz hinein und ließ den Motor an, ehe er sich herüberbeugte und die beiden anderen Türen aufstieß.

»Wir müssen uns beeilen. Doktor Schreiber erwartet uns um halb fünf. Und bei dem Verkehr...«

Kim kletterte auf die Rückbank, angelte nach dem Sicherheitsgurt und ließ den Verschluß einrasten. Sie fuhren los.

Es regnete immer stärker, während sie durch den immer dichter werdenden Berufsverkehr über die Hauptstraße nach Osten fuhren. Die Straßen begannen sich in große, mattgraue Spiegel zu verwandeln, auf denen langgestreckte, verschwommene Spiegelbilder den Autos zu folgen schienen. Die Fußgänger hatten ihre Regenschirme aufgespannt oder den Mantelkragen hochgeschlagen und flüchteten in Hauseingänge und Geschäfte. Es wurde dunkler, und die klamme Feuchtigkeit begann langsam auch in den Wagen zu kriechen. Vater schaltete die Heizung ein. Der Ventilator summte und verbreitete bald eine behagliche Wärme. Trotzdem fror Kim immer mehr. Er hatte sich auf der breiten Rückbank zusammengekauert und die Hände in den Jackentaschen vergraben, aber die Kälte, einmal hereingekommen, schien sich tief in seine Knochen verbissen zu haben. Die warme Luft erwärmte nicht einmal seine Haut, sondern schien dicht vor seinem Körper von einem unsichtbaren Schutzschirm aufgehalten zu werden. Er preßte den zerschlissenen Plüschteddy eng an sich. Sein Blick fiel in den Rückspiegel. Er bemerkte, daß Vater immer wieder aufsah und ihn im Spiegel beobachtete. Mit einem Mal kam er sich lächerlich vor, wie er so dasaß, zitternd, frierend, die Hände in den Taschen und ein Kinderspielzeug im Arm. Mit einer verlegenen Geste legte er den Bären weg, drehte sich zur Seite und drückte das Gesicht gegen die beschlagene Scheibe.

Sie verließen die Stadt, fuhren auf die Autobahn, und Vater gab Gas. Die Tachometernadel kletterte rasch höher und verweilte dann knapp unterhalb der Hundertkilometermarke. Vater hatte ihm oft erklärt, daß man bei nasser Fahrbahn achtzig Stundenkilometer nicht überschreiten sollte, aber heute schien er sich selbst nicht an diese Regel zu halten. Der Wagen schwenkte auf die Überholspur hinaus, zog einen doppelten, sprühenden Schleier aus grauen Wassertröpfchen hinter sich her und überholte eine Kolonne von Lastwagen.

Über dem Rhein schimmerte ein Regenbogen, als sie in die Zufahrt zur Südbrücke einbogen. Der Fluß wirkte glatt und stumpf, als wäre er aus flüssigem Blei. Ein großer Lastkahn zog unter ihnen flußabwärts. Kim folgte ihm mit dem Blick, bis er unter dem Brückengeländer verschwunden war, und betrachtete dann wieder den Regenbogen. Es war kein besonders großer oder besonders prächtiger Regenbogen, und Kim fragte sich unwillkürlich, ob es wohl so etwas wie eine Rangordnung, eine Hierarchie der Regenbogen gab, angefangen von kleinen, unbedeutenden Regenbogen mit wenigen und blassen Farben wie dieser hier bis hin zu prächtigen, in allen Farben schillernden Brücken, die sich über den gesamten Himmel und bis zu den Sternen emporspannten. Vielleicht gab es in der Unendlichkeit des Alls sogar einen König der Regenbogen, wenngleich Kim sich nicht vorstellen konnte, wie dieser aussehen mochte. Aber das Universum war so groß und wundervoll, daß irgendwo, vielleicht auf einem winzigen, unbedeutenden Planeten, Galaxien entfernt, wohl auch ein König der Regenbogen existierte. Bestimmt.

Die Brücke blieb hinter ihnen zurück, und mit ihm verschwand auch der Regenbogen im trostlosen Grau des Himmels. Über der Stadt ballten sich schwarze Wolken zusammen, und der Regen strömte jetzt so heftig, daß die Scheibenwischer kaum noch dagegen ankamen. Das Prasseln der Tropfen auf dem Wagendach hörte sich an wie fernes Donnergrollen.

Sie fuhren die Südallee hinunter, bogen nach wenigen Minuten rechts ab und dann in die Mohrenstraße ein. Kim kannte den Weg genau. Vor ein paar Jahren hatte er selbst in dieser Klinik gelegen, ebenfalls wegen einer Blinddarmoperation. Blinddarmentzündung schien eine Art Familienkrankheit zu sein. Vater hatte deswegen eine wichtige Geschäftsreise abbrechen müssen, auch Mutter hatte keinen Blinddarm mehr, und er selbst hätte um ein Haar die dritte Klasse wiederholen müssen, weil er auf Anraten der Ärzte einen Erholungsaufenthalt anschließen mußte und so insgesamt sechs Wochen versäumt hatte. Es war ein schlimmes Jahr gewesen. Vater hatte einen Studenten als Nachhilfelehrer engagiert, und während seine Freunde draußen auf der Straße Fußball spielten oder die Stadt unsicher machten, hatte Kim über seinen Schulbüchern sitzen und büffeln müssen.

Vater hielt an, beugte sich nach hinten und öffnete die Tür. »Steigt schon aus«, sagte er. »Ich suche rasch einen Parkplatz.«

Kim öffnete den Sicherheitsgurt, sprang aus dem Wagen und lief mit gesenktem Kopf auf die weißgestrichene, bogenförmige Einfahrt der Klinik zu. Unter dem steinernen Vordach drängten sich mindestens ein Dutzend Leute, die vor dem plötzlichen Regenschauer Schutz gesucht hatten und jetzt mit finsterem Gesicht in den Himmel starrten, darauf wartend, daß der Regen aufhörte; Männer, Frauen, ein paar Kinder, aber auch zwei dunkelhaarige Männer in weißen Kitteln, die offenbar zur Klinik gehörten und nur eine Besorgung hatten machen wollen, als sie vom Regen überrascht wurden.

Kim steckte die Fäuste tiefer in die Taschen, als er sah, wie sich eine Frau umdrehte und lächelnd den Teddybären unter seinem Arm betrachtete. Er bemühte sich, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen, preßte den Bären provozierend noch enger an die Brust und lehnte sich neben der stummen Gestalt seiner Mutter gegen die feuchte Wand. Irgendwo, noch weit entfernt, zuckte ein Blitz, und Sekunden später rollte das leise Echo des Donners über die Straße.

Kim fröstelte. Seine Schuhe waren durchweicht, und er merkte erst jetzt, daß er mitten in einer Pfütze stand. Er trat einen Schritt zur Seite, wechselte den Bären vom linken in den rechten Arm und blickte unsicher zu seiner Mutter auf. Ihr Gesicht erschien ihm im dämmerigen Zwielicht des steinernen Gewölbes schmal und grau. Seltsam, dachte er, und ein vollkommen fremdes, unangenehmes Gefühl überkam ihn. Er hatte sich nie - wirklich noch nie - Gedanken über seine Mutter gemacht. Er liebte sie, natürlich. Sie war immer für ihn da, für ihn, Becky und Vater, aber er hatte sich noch nie ernsthaft überlegt, wie es in ihrem Inneren aussehen mochte. Sie war jemand, zu dem man jederzeit kommen konnte, mit jedem Problem, jedem Kummer, jemand, der immer Zeit zum Zuhören, immer ein verständnisvolles Wort hatte, und Kim hatte das stets für selbstverständlich genommen. Während er jetzt ihr schmales, von Schatten und scharfen Linien gezeichnetes Gesicht betrachtete, die er noch nie zuvor so deutlich gesehen hatte, wurde ihm plötzlich klar, wieviel Kraft und Energie seine Mutter dieses Einfach-Dasein kostete. Er ergriff ihre Hand, drückte sie und versuchte zu lächeln.

Sie blickte zu ihm herunter und lächelte zurück, aber ihre Augen blieben ernst. Der Regen vermischte sich mit den Tränen auf ihrem Gesicht, und plötzlich preßte sie seine Hand so fest, daß es schmerzte.

Der Regen wurde für einen Moment noch heftiger, und der Wind trieb graue Wasserschleier zwischen den Häusern dahin. Die Autos krochen im Schrittempo über die Straßen, und auf den Bürgersteigen war kaum noch ein Mensch zu sehen. Ein Krankenwagen bog mit heulender Sirene in die Straße ein, brauste inmitten einer gischtenden Flutwelle auf die Einfahrt zu und verschwand dann in dem weitläufigen Krankenhausgelände.