»Armer Junge«, sagte er. »Du fühlst dich genauso elend wie ich, nicht wahr?«
Das Pferd bewegte den Kopf, als habe es die Worte verstanden, wieherte und stieß Kim mit seiner feuchten Nase vor die Brust. Kim verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und landete lachend auf dem Hosenboden. Aber er wurde gleich wieder ernst.
»Ich fürchte, du mußt mich noch eine kleine Weile tragen, Junge«, sagte er. »Wir sind nämlich noch lange nicht in Sicherheit. Baron Kart wird einen Weg finden, über die Schlucht zu gelangen, und dann möchte ich so weit wie nur möglich weg sein. Du wohl auch, oder?« Seufzend befestigte er seinen Helm am Sattelknauf und kletterte wieder auf den Rücken des Pferdes.
Sie ritten weiter bergab. Die steinige Landschaft überzog sich mehr und mehr mit Grün, und aus den vereinzelten Bäumen wurden Haine und kleine, schattige Wälder, die zum Verweilen einluden. Kim tränkte sein Pferd an einem der zahlreichen klaren Bäche, die ihren Weg kreuzten, stärkte sich selbst mit ein paar Schlucken eiskalten Wassers und riß eine Handvoll Beeren von den Büschen ab. Hunger und Erschöpfung machten sich wieder bemerkbar. Er war hundemüde, und er hätte wer weiß was darum gegeben, ein paar Stunden in einem weichen Bett oder auch nur auf nacktem Boden zu schlafen, aber er war noch nicht weit genug von Kart und seinen schwarzen Reitern entfernt. Wenigstens bis zum Abend mußte er durchhalten. In der Dunkelheit konnte er es vielleicht riskieren, sich in einer Felsspalte oder unter einem Busch zum Schlafen zu legen.
Spät am Nachmittag verließen sie das Gebirge. Der steinige Berghang ging in eine sanft abfallende, saftiggrüne Wiese über, die an einen schattigen Wald grenzte. Der Anblick gab ihm und seinem Pferd neue Kraft. Er spornte das Tier noch einmal an und ritt im Galopp auf den Waldrand zu.
Als sie die ersten Bäume erreichten, ließ er die Zügel fahren, nahm einen Fuß aus dem Steigbügel und fiel aus dem Sattel. Der Wald und der helle, wolkenlose Himmel begannen sich um ihn zu drehen, Übelkeit und ein Gefühl nie gekannter Schwäche übermannten ihn. Er fiel auf die Knie, rollte sich auf die Seite und versuchte vergeblich, wieder hochzukommen. Sein Körper hatte mehr gegeben, als er geben konnte, und selbst wenn die Welt in diesem Moment um ihn herum zusammengebrochen wäre, hätte Kim keinen Schritt mehr gehen können.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er hob den Kopf und sah, wie sich die Büsche vor ihm bewegten.
Aber es war nur ein Dachs, der, angelockt durch den Lärm und den fremden Geruch, den er und sein Pferd ausströmen mochten, herbeikam und neugierig schnüffelte.
Kim lächelte matt.
»Hallo, Dachs«, sagte er. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, ein lebendes Wesen zu sehen.« Er streckte die Hand aus und bewegte die Finger. Der Dachs schnüffelte erneut, ließ sich dann auf sein breites Hinterteil sinken und begutachtete diesen seltsamen Besucher aus seinen kleinen, klugen Augen.
»Du bist zwar nur ein Dachs«, murmelte Kim, schon halb im Schlaf, »aber du bist trotzdem das schönste Wesen, das ich seit Tagen zu Gesicht bekomme. Schade, daß du mir nicht helfen kannst.«
Der Dachs legte den Kopf auf die Seite und zwinkerte ein paarmal.
Kim ließ den Kopf ins weiche Gras sinken, schloß die Augen und seufzte: »Nimm's mir nicht übel, Dachs, aber ich muß einfach ein paar Minuten schlafen. Wenn du wartest, bis ich aufwache, unterhalten wir uns ein bißchen.«
Der Dachs grunzte, kratzte sich mit dem Hinterlauf am Ohr und schüttelte sich.
»Soviel Zeit habe ich leider nicht«, brummte er. »Aber ich komme gerne wieder. Man trifft hier nicht oft Leute, mit denen man ein gemütliches Schwätzchen halten kann, weißt du.«
Kim wußte später nicht zu sagen, ob er im nächsten Moment eingeschlafen oder vor Schreck in Ohnmacht gefallen war.
Kim blieb fast eine Woche bei Tak, dem Dachs. Der alte Grimbart bewohnte zusammen mit seiner Frau und einer Horde streitlustiger kleiner Dachskinder eine ausgedehnte Höhle tief unter dem Waldboden, groß genug, daß auch noch Kim darin Platz fand.
Die Taks - nicht nur Tak hieß Tak, sondern auch seine Frau und jedes der acht Jungen, so daß Kim sich oft fragte, wie um alles in der Welt Frau Tak ihre Sprößlinge wohl auseinanderhalten konnte -, die Taks waren jedenfalls sehr freundliche Leute, wenn sie auch im ersten Moment einen etwas verschlossenen und eigenbrötlerischen Eindruck machten. Während der ersten drei Tage lag Kim fast die ganze Zeit in einer stillen, dunklen Ecke der Höhle und wachte nur auf, wenn ihm Frau Tak etwas zu essen brachte oder einer der jungen Taks ihn aus purem Übermut an den Haaren zog oder versuchte, unter seine Rüstung zu kriechen. Erst am vierten Tag verließ er die Höhle, um sich in der näheren Umgebung umzusehen und sein Pferd zu versorgen. Aber der kurze Ausflug zeigte ihm deutlich, daß seine Kräfte noch lange nicht zurückgekehrt waren. Er versuchte zu reiten, fiel aber schon beim ersten Versuch aus dem Sattel und kroch niedergeschlagen in den Dachsbau zurück.
Unten war es kühl und schattig wie immer. Kim verkroch sich in seine Ecke und kuschelte sich in das trockene Laub, das die Dachse zu einem Bett zusammengetragen hatten. Die Taks waren tagsüber fast immer in der Höhle. Nachts gingen sie auf Nahrungssuche und kehrten meist erst im Morgengrauen von der Jagd zurück. Kim hatte während der letzten Tage nicht viel mit ihnen geredet. Die Dachse waren nicht sehr gesprächig. Wenn sie nach Hause kamen, ging Frau Tak sofort daran, die Vorräte zu verstauen und das Essen vorzubereiten, während sich die Jungen in ihre Spielhöhle zurückzogen und der alte Dachs an seinem Lieblingsplatz hockte und friedlich vor sich hin döste.
Der Dachsbau war behaglich und sicher, ein Ort, an dem man sich geborgen fühlte und wo man alle Sorgen und Nöte vergessen konnte. Ein ganz klein wenig wie zu Hause, dachte Kim, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder. Er war nicht hierhergekommen, um sich auszuruhen. Es gab noch viel zu tun.
Kim stand wieder auf, kroch auf allen vieren zu Tak hinüber und hockte sich schweigend neben ihn auf den Boden.
Tak machte ein Auge auf und sah Kim prüfend an.
»Ich hoffe, du fühlst dich besser«, sagte er.
Kim nickte. »Ja. Ich... ich fühle mich schon wieder ganz gut. Und das habe ich nur eurer Hilfe zu verdanken.«
»Laß nur. Ich sagte schon, daß hier nicht oft Leute vorbeikommen. Da ist es doch selbstverständlich, daß man sich umeinander kümmert.«
»Aber ich kann nicht hierbleiben«, murmelte Kim.
»Ich weiß.« Tak wackelte mit dem Kopf. »Ayyah«, seufzte er. »Diese jungen Leute heute. Immer in Eile, niemals haben sie Zeit für ein Schwätzchen.« Wieder wackelte er mit dem Kopf und sah Kim traurig an. »Ich hatte gehofft, daß du ein Weilchen bei uns bleiben und uns Gesellschaft leisten würdest. Aber ich sehe schon, daß ich dich nicht halten kann.« Kim sah ihm verdutzt an. Nachdem Tak in den letzten drei Tagen kaum drei Worte mit ihm gewechselt hatte, kam dieser plötzliche Anflug von Geselligkeit etwas überraschend.
»Bleib noch ein paar Monate«, sagte Tak. »Der Winter steht vor der Tür, dann können wir hier gemütlich beisammensitzen und reden. Es gibt viel zu besprechen.« Er hob schnuppernd den Kopf. »Es geht Schlimmes vor im Land«, murmelte er. »Alles ist so aufgeregt und nervös. Niemand hat mehr Zeit für einen netten Plausch. Ayyah.«
»Wie meinst du das?« fragte Kim. »Was geht Schlimmes vor im Land?«