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Aber was konnte er schon tun? Sicher, zweimal hatte er Boraas und seinen finsteren Statthalter an der Nase herumgeführt. Doch jetzt war die Sache vollkommen anders. Es ging nun nicht mehr um ihn, Kim, allein. Und alle Klugheit der Welt vermochte Boraas und sein gigantisches Heer nicht aufzuhalten.

Am Morgen des sechsten Tages verabschiedete sich Kim von der Dachsfamilie. Es fiel ihm nicht leicht zu gehen, aber er hatte schon viel zuviel Zeit verloren. Seine Wunden waren geheilt, und Frau Tak hatte ihr Versprechen wahr gemacht und ihn so gründlich gemästet, daß er sich gesund und kräftig fühlte. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.

Die beiden alten Dachse geleiteten ihn noch ein Stück des Weges hinunter, und als Kim endgültig Abschied von ihnen nahm, glaubte er im Augenwinkel von Frau Tak eine einzelne Träne glitzern zu sehen.

Kim wollte noch etwas sagen, aber er fand nicht die richtigen Worte. Ein Blick in Taks Gesicht sagte ihm, daß es keiner bedurfte. Kim nickte noch einmal zum Abschied, lenkte sein Pferd herum und gab ihm die Sporen.

Der Wald wurde dichter, je weiter sie nach Westen kamen. Der Boden fiel sanft, aber beständig weiter ab. Kim begriff, daß er noch lange nicht aus dem Vorgebirge heraus war und in Wirklichkeit einen gewaltigen bewaldeten Hügel hinunterritt. Spät am Nachmittag rastete er an einem kleinen, einsamen See, trank ein paar Hände voll des eiskalten, wohlschmeckenden Wassers und aß etwas aus dem Beutel, den ihm Frau Tak mit Eßbarem angefüllt hatte. Die alte Dächsin hatte Kim gut versorgt, so daß er für die nächsten zwei Wochen weder zu jagen noch Früchte und Beeren zu sammeln brauchte.

Der Wald wurde immer noch dichter, zugleich aber auch belebter. Kim traf jetzt oft auf Tiere - Kaninchen, Eichhörnchen, ein paar Rehe, die ihn aus der Ferne mißtrauisch, doch ohne Anzeichen von Furcht beäugten. Einmal kam ihm ein Eichhörnchen so nahe, daß Kim die Hand ausstrecken und den winzigen pelzigen Kopf streicheln konnte. Ein andermal äste ein Hirsch mitten auf dem Weg, ohne sich durch Kims Näherkommen stören zu lassen. Obwohl der Wald so dicht war, ließ das Blätterdach hoch über seinem Kopf genügend Licht durch, so daß Kim durch einen ständigen Wechsel von goldenem Licht und warmem, dunkelgrünem Schatten ritt.

Erst am späten Nachmittag erreichte er den Waldrand, besser gesagt den Rand einer Lichtung, die so groß war, daß man den gegenüberliegenden Waldrand nur als schmale dunkle Linie erkennen konnte. Kim verhielt sein Pferd einen Moment im Schatten der letzten Bäume und trieb es dann auf die Lichtung hinaus. Etwa in der Mitte befand sich eine Ansammlung dunkler, nur als kleine Punkte zu erkennender Gebäude - ein Dorf oder ein größeres Gehöft vielleicht. Kim beschleunigte sein Tempo und ritt schließlich in scharfem Galopp auf die Häuser zu. Nach allem, was er erlebt hatte, konnte er es kaum mehr erwarten, endlich wieder auf Menschen zu treffen. Flüchtig dachte er daran, daß seine schwarze Rüstung vielleicht Argwohn oder gar Angst erwecken mochte, aber dieses Mißverständnis würde er bald aus dem Weg räumen. Er war sicher, daß man ihn mit offenen Armen empfangen würde, sobald er seine Geschichte erzählte.

Als er näher kam, sah er, daß es sich tatsächlich um ein großes Gehöft handelte. Rings um das dreistöckige Wohngebäude gruppierten sich fast ein Dutzend Scheunen und Ställe, und der rechteckige, mehr als hundert Schritte im Quadrat messende Innenhof wurde von einer brusthohen Mauer umgeben, die aber offensichtlich nur zur Abgrenzung des Grundstückes und nicht etwa für Verteidigungszwecke diente.

Alles war ruhig. Kein Mensch war zu sehen, obwohl Türen und Fenster offenstanden. Der Hof schien jedoch nicht verlassen zu sein, denn vor den Scheunen lagen Werkzeuge und Bündel herum, und aus der Esse des Hauptgebäudes kräuselte sich eine Rauchfahne in die unbewegte Luft empor.

Aber sonst rührte sich nichts. Neben dem Tor stand ein zweirädriger Karren, der zur Hälfte mit frisch getrocknetem Heu beladen war, daneben lagen Harken, hölzerne Heugabeln und ein aufgeplatzter Beutel mit frischen grünen Äpfeln, fast als hätten die, die hier gearbeitet hatten, alles stehen- und liegenlassen, um Hals über Kopf zu flüchten.

Kim ritt durch das weitoffene Tor, zügelte sein Pferd und sah sich aufmerksam um. Im Haus rührte sich noch immer nichts, und auf einmal fiel Kim die grabesähnliche Stille auf, die sich über das weitläufige Gelände gebreitet hatte. Ein unheimliches Gefühl kroch in ihm hoch, Instinktiv legte er die Rechte auf den Griff des Schwertes und klappte das Visier herunter.

Der Hof wirkte tot, dachte Kim erschrocken. Ein Anwesen von dieser Größe konnte einfach nicht so völlig still sein. Selbst wenn alle Bewohner schliefen oder auf den Feldern waren. Es mußte hier Tiere geben, Hunde, Katzen, Hunderte von Hühnern und Kühen und Schweinen, irgend etwas, was Lärm machte, lebte, sich bewegte.

Aber da war nichts. Alles blieb still, so still, daß das leise Knarren seiner Rüstung von den lehmverputzten Wänden widerhallte.

Kim stieg aus dem Sattel, zog seine Waffe und näherte sich der halb offenstehenden Tür einer Scheune. Seine Hand zitterte ein klein wenig, als er das Tor weiter aufschob und ins Innere sah. Durch die Ritzen im Dach sickerte Sonnenlicht in gelben, flirrenden Bahnen und verwob den Raum in ein wirres Muster aus Hell und Dunkel, in dem es Kim schwerfiel, etwas zu erkennen. Die Scheune war angefüllt mit Säcken und Werkzeugen. Ein roh zusammengezimmerter Heuboden von halber Raumtiefe warf einen messerscharf gezogenen Schatten durch den Innenraum.

Und direkt vor dem Eingang lag ein totes Schwein in einer dunklen Lache eingetrockneten Blutes.

Kim starrte den Kadaver eine Sekunde lang an, ehe er herumfuhr und - alle Vorsicht vergessend - über den Hof zum Wohngebäude hinüberrannte. Mit einem Schulterstoß drückte er die Tür auf, stolperte durch eine schmale, halbdunkle Diele und weiter in den dahinterliegenden Wohnraum.

Auf den sorgsam gebohnerten Dielen lag ein regloser schwarzer Krieger. Sein Arm war ausgestreckt, die Hand zu einer Klaue verkrümmt, das Schwert zerbrochen und gesplittert, und aus den Ritzen seiner Rüstung sickerte dunkles Blut.

Es war nicht der einzige Tote im Raum. Die Bewohner mußten sich hier, im Hauptgebäude, verschanzt, haben, als die schwarzen Reiter den Hof überfielen. Und sie hatten sich tapfer zur Wehr gesetzt, tapferer, als die Schwarzen erwartet zu haben schienen; ebenso wie dieser eine, über den Kim beinah gestolpert wäre, hatten noch andere den Überfall mit dem Leben bezahlt. Aber alle Tapferkeit hatte den Bauern schließlich nichts genutzt.

Kim wandte sich schaudernd ab. Er verließ das Haupthaus und durchsuchte den Hof Gebäude für Gebäude, Raum für Raum. Es gab kein Leben mehr. Die schwarzen Mörder hatten nicht nur die Menschen, sondern jedes Tier, jede noch so kleine Spur von Leben ausgelöscht, als hätten sie ihrer Wut in einer Orgie sinnlosen Mordens Luft gemacht. Schließlich, nach mehr als einer Stunde, in der Kim auf immer neue Spuren des Todes und der Vernichtung gestoßen war, wankte er auf den Hof hinaus, lehnte sich gegen die Flanke seines Pferdes und weinte hemmungslos.

Er war zu lange drüben gewesen, weitab von allem, zu lange bei den Taks, in der friedlichen Umgebung des Waldes und der Einsamkeit. Er hatte gewußt, daß die schwarzen Horden das Land überfielen. Und es hätte der Worte Taks nicht bedurft, ihm zu sagen, was ihn und all die anderen erwartete.

Trotzdem war diese Gefahr, so real und zum Greifen nahe sie ihm auch erschienen war, bis jetzt nur ein vager Begriff gewesen. Jetzt, in diesem Moment, erfaßte Kim zum ersten Mal, was das Wort wirklich bedeutete: Krieg.

Krieg war etwas Schlechtes, etwas abgrundtief Böses und Verachtenswertes. Er hatte es immer gewußt, aber niemals so direkt begriffen wie in diesem Augenblick. Krieg - das waren keine heroischen Reiterheere, die auf einem Schlachtfeld aufeinanderprallten, keine schimmernden Ritter, die mit dem Wimpel ihrer Liebsten in den Kampf zogen, keine strahlenden Helden, die für eine gute Sache fochten. Dies hier war Krieg. Brutaler Mord an wehrlosen Menschen und Tieren.