Kim weinte. Weinte, schluchzte und hämmerte in ohnmächtiger Verzweiflung auf den Boden. Ein anderer hätte jetzt vielleicht Zorn empfunden, Haß auf Boraas, auf Kart und die schwarzen Reiter, die für dieses sinnlose Töten verantwortlich waren. Aber Kim empfand nur Verzweiflung und Schmerz, die so groß waren, daß sie jedes andere Gefühl in den Hintergrund drängten.
Irgendwann versiegten seine Tränen. Er stand auf und schwang sich in den Sattel. Sein Pferd bockte, als er es zum Ausgang und dann die Wiese hinunterlenkte. Es witterte wohl die Nähe der Ställe und das frische Heu. Aber sosehr sich Kim noch vor wenigen Stunden auf ein weiches Bett und menschliche Gesellschaft gefreut hatte, so sehr versetzte ihn diese Stätte des Todes jetzt in Schrecken.
Er fiel in Galopp, gab dem Pferd gnadenlos die Sporen und gestattete ihm erst ein langsameres Tempo, als der Hof hinter ihm in der Dunkelheit versunken war.
Kim war dem Reich der Schatten entronnen. Aber der Krieg war ihm gefolgt und hatte ihn eingeholt. Und diesmal würde er ihm nicht wieder entkommen können.
VIII
Er übernachtete unter freiem Himmel. Nach dem milden Sonnenschein und der Wärme des Tages wurde es während der Nacht empfindlich kühl. Kim wickelte sich frierend in seine Decke ein und sehnte sich danach, ein Feuer entzünden zu können. Aber er hatte keine Streichhölzer, und selbst wenn er imstande gewesen wäre, nach Pfadfinderart durch Aneinanderreihen zweier trockener Hölzer einen Funken zu entfachen, hätte er es wahrscheinlich nicht gewagt. Die friedliche Stille täuschte. Seine Erlebnisse vom Vortag hatten ihm gezeigt, wie nahe das Böse bereits war. Vielleicht war sogar schon alles umsonst. Vielleicht hatte das schwarze Heer in der Zeit, die Kim bei der Dachsfamilie verbracht hatte, das ganze Land überschwemmt, so daß er, wohin er auch kam, nur noch Tod und verbrannte Ruinen vorfinden würde.
Solche und ähnliche Gedanken quälten ihn die ganze Nacht. Lange vor Sonnenaufgang rollte er seine Decke zusammen, schwang sich in den Sattel und ritt weiter. Im Morgengrauen erreichte er einen kleinen See, dessen liebliches Ufer zum Verweilen einlud. Kim stieg ab, ließ Junge nach einem freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil grasen und ging zögernd zum Wasser hinunter.
Ein leises Geräusch drang durch das Raunen des Waldes zu ihm. Zuerst glaubte Kim, seine überreizten Nerven spielten ihm einen Streich. Aber das Geräusch wiederholte sich, und Kim erkannte, daß es Schritte waren. Schwere Schritte, die schnell näher kamen. Wer immer das war, er gab sich nicht die mindeste Mühe, sein Kommen zu verbergen.
Kims Müdigkeit verflog und machte einer nervösen Anspannung Platz. Er sah sich nach einer Deckung um, aber der Waldrand war zu weit entfernt, um ihn noch rechtzeitig erreichen zu können. Schlagartig wurde ihm die Gefährlichkeit seiner Situation bewußt. Er stand, bildlich gesprochen, zwischen zwei Feuern. Seine Rüstung würde die schwarzen Ritter vielleicht noch einmal für kurze Zeit täuschen können, aber sie waren gewarnt und würden bald herausfinden, wen sie vor sich hatten. Und wenn ihn nun keine schwarzen Reiter, sondern Bewohner dieses Landes fanden, konnte ihm der schwarze Harnisch leicht zum Verhängnis werden. Es war gut möglich, daß sie ihn in blinder Wut erschlugen, ohne danach zu fragen, wer sich darunter verbarg. Kim hätte es ihnen nicht einmal verübeln können.
Rückwärts gehend wich er zum See zurück, zog sein Schwert aus der Scheide und starrte auf die Stelle am Waldrand, wo der Unbekannte auftauchen mußte.
Kims Atem stockte, als er den Fremden sah.
Es war ein Riese.
Kim hatte in letzter Zeit viele große Männer gesehen, auch solche, die man getrost als Riesen bezeichnen konnte. Aber neben diesem breitschultrigen, grobschlächtigen Kerl hätte sogar Baron Kart klein und schmächtig gewirkt. Kim schätzte seine Größe auf gute vier Meter. Die Schultern des Riesen waren so breit, daß Kim sie mit ausgestreckten Armen nicht hätte umfassen können. Er trug eine knielange dunkelbraune Wollhose, die an vielen Stellen zerrissen oder geflickt war, und darüber ein weit ausgeschnittenes, ärmelloses Hemd, das seine haarige Brust nur teilweise bedeckte. Sein langes dunkles Haar sah aus, als wäre es vor ungefähr fünfzig Jahren das letzte Mal gewaschen worden, und über der rechten Schulter trug er eine mächtige Keule, die größer war als Kim.
Der Riese schien über Kims Anblick ebenso überrascht wie Kim über den seinen. Er hielt mitten im Schritt inne, riß den Mund auf und entblößte zwei Reihen großer gelber Zähne.
»Ooooh!« machte er mit tiefer, grollender Stimme. »Wen haben wir denn da?«
Kim duckte sich. Er sah sich vergebens nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sein Schwert mit beiden Händen umfassend, wich er noch weiter zurück, bis er weit über die Knöchel im Wasser stand. Der Riese machte einen Schritt auf ihn zu, knickte mit einer lässigen Handbewegung einen jungen Baum zur Seite und schwang seine Keule von der Schulter.
»Bleib, wo du bist!« rief Kim. Die Stimme versagte ihm fast vor Angst. Er sah ein, daß Weglaufen zwecklos war.
Der Riese grinste.
»Ein Schwarzer«, grollte er in einem Tonfall, als spreche er mit einem guten Freund oder auch mit sich selbst. »Sieh da, ein Schwarzer.« Er blieb wieder stehen, sah sich mit vorgestrecktem Hals nach beiden Seiten um und kratzte sich dann am Schädel. Es klang, als ziehe man Kreide über eine Schiefertafel. »Und noch dazu allein«, fügte er versonnen hinzu. »Es kommt nicht oft vor, daß man einen von euch allein trifft. Eine Gelegenheit wie diese sollte man nutzen.«
Kim konnte sich das lebhaft vorstellen. Er hob das Schwert ein wenig an, bis die schwarze Spitze genau auf den Bauch des Riesen zeigte, und sagte, so ruhig er konnte: »Bleib stehen, oder...«
»Oder?« Zwischen den buschigen Augenbrauen des Riesen erschien eine steile Falte.
»Oder ich hacke dich in Stücke!« fügte Kim mit zitternder Stimme hinzu.
Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Riese in schallendes Gelächter ausbrechen. Doch dann nahm sein Gesicht einen besorgten Ausdruck an.
»Das bringst du fertig«, murmelte er und kratzte sich abermals am Schädel. »Das bringst du tatsächlich fertig.« Er machte einen Schritt auf Kim zu und blieb erschrocken stehen, als Kim drohend mit dem Schwert fuchtelte. Langsam hob er seine riesige Keule.
Kim raffte den letzten Rest seines Mutes zusammen, stieß einen krächzenden Laut aus und sprang auf den Riesen zu. Er holte aus, drehte das Schwert und schlug dem Riesen die flache Klinge vor den Bauch - höher kam er nicht.
Der Riese verdrehte entsetzt die Augen, warf seine Keule in hohem Bogen weg und fiel wimmernd auf die Knie.
»Nicht!« flehte er. »Tu mir nichts, Schwarzer. Ich... ich bin nur ein harmloser, feiger Riese, der noch keinem was getan hat.« Er zerdrückte eine Träne im Augenwinkel, faltete flehend die Hände und schluchzte laut.
Kim ließ verblüfft das Schwert sinken. Er war überzeugt gewesen, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Und jetzt das?
»Bitte, mächtiger Herr!« flehte der Riese. »Verschont mich! Nehmt mich als Sklaven, aber tut mir nichts. Ich habe nie in meinem Leben jemandem etwas zuleide getan, am allerwenigsten einem Schwarzen.«
»Aber...« Kim schüttelte ratlos den Kopf und trat einen Schritt zurück. Das Gesicht des Riesen war blaß vor Angst. Seine Lippen zitterten, und aus seinen Augen sprach nackte Angst. Obwohl er auf den Knien lag, befanden sich sein und Kims Gesicht auf gleicher Höhe.
»Ich... ich bin kein schwarzer Ritter«, stieß Kim hervor. Er rammte sein Schwert in den weichen Waldboden, klappte das Visier hoch und nahm den Helm schließlich ganz ab. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er beruhigend und kam sich dabei unglaublich komisch vor. Trotzdem fügte er noch hinzu: »Ich will dir nichts zuleide tun.«