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Der Riese schluckte. »Wirklich nicht, mächtiger junger Herr? Ich... Ihr seid Gorg nicht böse, daß er Euch verwechselt und seine groben Späße mit Euch getrieben hat?«

»Bestimmt nicht«, sagte Kim.

»Aber... aber Ihr tragt die Rüstung eines Schwarzen, und...«

Kim seufzte. »Ich weiß«, sagte er. »Und es ist eine lange Geschichte. Aber ich bin kein Schwarzer.«

»Und Ihr seid mir auch bestimmt nicht böse?«

»Bestimmt nicht«, versicherte Kim ein zweites Mal. »Und jetzt steh auf und benimm dich, wie es einem Riesen zukommt.«

Gorg nickte eifrig, erhob sich zuerst auf ein Knie und dann auf beide Füße und überragte Kim auf einmal wieder um mehr als zwei Meter.

»Darf ich... darf ich meine Keule aufheben?«

Kim wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er nickte wortlos, hockte sich auf einen Felsbrocken und sah zu, wie der Riese seine Keule auflas und dann zum Ufer hinunterging, um sich mit seinen gewaltigen Händen etliche Liter Wasser ins Gesicht zu schöpfen. Er prustete, warf Kim einen furchtsamen Blick zu und kam dann mit hängenden Schultern zurück.

»Dein Name ist Gorg?« fragte Kim, nachdem der Riese ihm gegenüber Platz genommen und einen zwei Meter langen Ast von einem Baum abgerissen hatte, um sich damit am Rücken zu kratzen.

Der Riese nickte. »Eigentlich heiße ich Gorganogan Maropalkam Orovatusanius Premius Nesto Schranirak Gowlim, aber das kann keiner behalten. Alle nennen mich nur Gorg. Aber ich kann auch einen anderen Namen annehmen, wenn Ihr es befehlt, Herr. Wenn Euch Gorg nicht gefällt...«

»Es gefällt mir, doch, doch«, beeilte sich Kim zu versichern. Allmählich begriff er, daß Gorg nicht nur feige, sondern auch überaus geschwätzig war.

»Gut, dann bleiben wir bei Gorg«, nickte der Riese. »Ist mir auch lieber. Man gewöhnt sich so schlecht an einen anderen Namen, wißt Ihr. Früher nannte mein Vater mich immer Kleiner oder Knirps, aber als ich dann größer wurde, sagte er Langer und Bohnenstange zu mir, und später redete er mich nur noch mit meinem Namen an. Ah, das waren noch Zeiten.« Er wiegte den Kopf und sah Kim mißtrauisch an. »Wenn Ihr mir eine Frage gestattet, junger Herr...«

Kim seufzte. »Nur zu.«

»Ihr... Ihr seid kein Schwarzer?«

»Bin ich nicht. Ich sehe nur so aus.«

Gorg schien merklich erleichtert. »Das ist gut«, sagte er. »Das ist sehr gut. Ich fürchtete schon, Ihr wärt ein Schwarzer. Seit ein paar Tagen sind viele Schwarze in der Gegend, und als ich Euch vorhin am See stehen sah, meinte ich schon, Ihr wärt ein Schwarzer, der nur gekommen ist, dem armen Gorg etwas zu tun. Es sind viele in der Gegend, und sie waren die ganze Zeit hinter dem armen Gorg her, haben wohl geglaubt, er wäre gefährlich, dabei will Gorg nichts als seine Ruhe. Und als ich Euch gerade am See...«

Kim schnitt den Redefluß des Riesen mit einer Handbewegung ab. »Ich bin wirklich kein schwarzer Ritter, basta«, sagte er. »Und wenn ich ehrlich sein soll, ich hatte genausoviel Angst wie du, als ich dich vorhin am Waldrand auftauchen sah. Vielleicht sogar noch mehr.«

»Angst?« echote Gorg ungläubig. »Angst? Vor mir? Vor einem harmlosen, feigen Riesen?«

Kim konnte nicht anders - er mußte grinsen.

»Wieso feige? Wie kann jemand, der so groß ist wie du, feige sein?«

Gorg zog eine Grimasse, als hätte er Zahnschmerzen. »Ach, das ist eine lange Geschichte, junger Herr«, seufzte er. »Gorg war nicht immer so groß wie heute, o nein. Nicht immer«, wiederholte er gerührt. »Früher, als ich ein Kind war, da war ich so klein wie Ihr, Herr. Aber als die anderen aufhörten zu wachsen, wuchs ich einfach weiter. Mein Vater sagte immer, ich wäre einfach zu dumm, um zu erkennen, daß ich längst groß genug sei und allmählich aufhören könnte zu wachsen. Aber ich bin immer weiter und weiter gewachsen, bis ich so groß war wie jetzt.«

»Aber wieso bist du feige?« fragte Kim. »Wer so groß und stark ist wie du, hat doch nun wirklich keinen Grund, sich vor jemand zu fürchten.«

Gorg wiegte den Schädel. »Mit der Größe ist es so eine Sache, junger Herr«, sagte er nachdenklich. »Genau wie mit der Stärke. Früher, als ich klein und schwach wie die meisten anderen war, habe ich so gedacht wie Ihr, und wie jedes Kind habe ich davon geträumt, einmal in meinem Leben ein Riese zu sein.« Sein Gesicht nahm einen wehleidigen Ausdruck an. »Aber es ist nicht schön, junger Herr, gar nicht schön. Jeder ist kleiner als man selbst. Wenn man in ein Haus geht, stößt man sich den Kopf, und faßt man jemanden ein bißchen an, schreit er gleich. Und alle zeigen dann mit Fingern auf einen und rufen: Seht euch den groben Kerl an. - So ist das mit der Stärke, junger Herr. Wenn man sie nicht hat, wünscht man sie sich, aber hat man sie einmal, wird man sie nicht mehr los. Man muß sich alles, was man tut, genau überlegen, und schließlich ist man soweit, daß man sich gar nicht mehr unter Menschen traut. Sie gehen so leicht kaputt, wißt Ihr.« Er seufzte, zog durch die Nase hoch und hob spielend einen drei Zentner schweren Felsbrocken vom Boden auf, um ihn wie einen Kieselstein ins Wasser zu schnippen. »Wenn man so stark ist wie ich, muß man feige sein, Herr«, fügte er traurig hinzu.

»Und du lebst ganz allein hier im Wald?« fragte Kim nach einer Weile.

Gorg nickte. »Ganz allein, junger Herr«, bestätigte er. »Manchmal gehe ich ins Dorf hinunter, und ab und zu treffe ich jemanden vom Berghof, aber nicht oft.«

Die letzten Worte rissen Kim schlagartig in die rauhe Wirklichkeit zurück.

»Du sagtest vorhin, du hättest schwarze Reiter gesehen«, erinnerte er.

Gorg nickte eifrig. »Viele, junger Herr. Gestern und auch den Tag davor und den Tag vor dem Tag davor.«

»Nenne mich Kim«, sagte Kim. »Die Anrede junger Herr erinnert mich an Dinge, die ich lieber vergessen möchte.«

»Wie Ihr wollt, Kim. Ihr interessiert Euch für die schwarzen Reiter?« fragte Gorg mit einem Blick auf Kims Rüstung.

»Ich kam, um euch vor ihnen zu warnen«, erklärte Kim. »Aber ich fürchte, ich komme zu spät.«

»Es ist nie zu spät für eine warnende Stimme. Aber Ihr müßt Euch beeilen, wenn Ihr rechtzeitig in Gorywynn sein wollt.«

»Gorywynn?«

»Unsere Hauptstadt. Die schwarzen Reiter«, erklärte Gorg mit einer Sachlichkeit, die Kim fast noch mehr verblüffte als seine zur Schau getragene Furchtsamkeit, »werden kaum über das Gebirge gekommen sein, um in diesen Wäldern zu lustwandeln. Man spricht von Krieg.«

Kim stand mit einer entschlossenen Bewegung auf. »Du hast recht«, sagte er. »Und aus diesem Grund muß ich auch weiter. Eigentlich hätte ich mich gar nicht aufhalten dürfen. Ihr Vorsprung ist schon groß genug.«

Gorg schenkte Kim einen langen, nachdenklichen Blick. »Ihr wollt ins Tal.«

Kim nickte.

»Ich kenne Wege, die Euch schneller hinunterbringen als die Schwarzen. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch ein Stück. Ihr spart einen Tag dabei.«

Kim überlegte kurz. Gorgs Ortskenntnis würde ihm von Nutzen sein, und seine hünenhafte Gestalt mochte auch eine versprengte Schar schwarzer Reiter einschüchtern. »Warum nicht?« sagte er. Er bückte sich, hob Helm und Schwert auf und pfiff sein Pferd herbei. Der Rappe kam gehorsam angetrabt. Seine Nüstern blähten sich mißtrauisch, als er den Riesen witterte. Seine Ohren zuckten.

»Schwarz ist Eure Lieblingsfarbe, wie?« brummte Gorg.

Kim antwortete nicht darauf. Der Riese zuckte mit den Schultern und begann mit weit ausgreifenden Schritten in den Wald zu marschieren. Kim spornte sein Pferd an, ihm zu folgen. Er hatte es aufgegeben, sich zu wundern. Seit seiner Ankunft in Märchenmond hatte er bereits so viel Absonderliches erlebt, daß es ihn fast schon erstaunt hätte, einen ganz normalen Menschen zu treffen.