Gorg stampfte vor ihm her, sah sich immer wieder nach ihm um und brach mit seinen breiten Schultern eine Bresche, durch die bequem drei Reiter hätten hindurchreiten können. Der Lärm, den er dabei verursachte, mußte kilometerweit zu hören sein, aber darüber schien sich Gorg überhaupt keine Sorgen zu machen. Genaugenommen paßte dieses Verhalten nicht so recht zu seiner angeblichen Feigheit.
»Wo führst du mich eigentlich hin?« fragte Kim, nachdem sie eine gute halbe Stunde quer durch den Wald marschiert waren. Ihm war aufgefallen, daß Gorg von der westlichen Richtung abgewichen war und sie sich jetzt fast parallel zum Schattengebirge bewegten.
Gorg drehte sich im Gehen um und zauberte eine Grimasse auf sein Gesicht, die wohl ein beruhigendes Lächeln bedeuten sollte. »Ins Tal, Kim«, grollte er. »Vertraut mir, ich kenne den Weg.«
Bis zum Mittag marschierte Gorg unbeirrt nach Süden. Als die Sonne am höchsten stand, verkündete er lautstark, daß es Zeit für ein Schläfchen sei, und ohne etwaige Einwände abzuwarten, hatte er sich schon unter einen Baum gelegt, die Hände über dem Bauch gefaltet und zu schnarchen begonnen.
Kim stieg ergeben vom Pferd, holte seinen Proviantbeutel hervor und aß ohne rechten Appetit.
Gorg schnupperte. Sein linkes Augenlid hob sich träge. Es war unschwer zu erkennen, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
»Hast du Hunger?« fragte Kim.
Gorg öffnete nun auch das zweite Auge, setzte sich halb auf und nickte begeistert. Kim reichte ihm den Beutel hinüber. »Bedien dich«, sagte er.
Gleich darauf bereute er es schon. Aber zu spät. Gorg zog den Beutel auf, legte den Kopf in den Nacken und schüttete sich den ganzen Inhalt auf einmal in den Mund.
»Nicht schlecht«, sagte er kauend. »Ihr versteht zu leben, Kim, das muß man Euch lassen.« Er rülpste laut und strahlte über das ganze Gesicht. »Ein bißchen wenig zum Sattwerden, aber als Zwischenmahlzeit nicht zu verachten«, lobte er. »Es schmeckt nach der Küche von Frau Tak.«
»Richtig«, sagte Kim überrascht. »Du kennst die Dachsfamilie?«
»Wer kennt sie nicht? Es sind nette Leute. Doch. Durchaus nette...« Er hielt mitten im Satz inne, hob ruckartig den Kopf und lauschte mit geschlossenen Augen.
»Was ist?« fragte Kim. »Hörst du etwas?«
»Ein Bär!« sagte Gorg erschrocken. Mit einem Satz war er auf den Füßen, griff nach seiner Keule und wandte sich zur Flucht. »Ein Bär!« heulte er. »Rettet Euch, Herr, ein Bär!« Kim sprang ebenfalls auf und wollte zu seinem Pferd, aber zu spät. Ein riesiger, zottiger Schatten tauchte zwischen den Büschen auf, fegte ihn mit einem Prankenhieb zur Seite und stieß ein zorniges Brummen aus. Kim segelte ein paar Meter weit durch die Luft und landete unsanft auf dem Rücken. Er schrie vor Schmerz und Überraschung auf, sprang schnell auf die Füße und zerrte sein Schwert hervor. Der Bär brummte wieder, richtete sich auf die Hinterbeine auf und kam mit wiegenden Schritten auf seinen winzigen Gegner zu. Kim schnappte nach Luft. Er hatte schon große Bären gesehen, aber dieser hier schien der Urgroßvater sämtlicher Grizzlys zu sein. Es war ein altes, kampferprobtes Tier. Sein zottiges braunes Fell war von grauen und weißen Strähnen durchzogen, sein rechtes Ohr fehlte, und an der Stelle seines rechten Auges befand sich eine vernarbte, hornige Fläche.
Kim schwang verzweifelt seine Waffe. Der Bär brummte, schlug ihm das Schwert wie ein Spielzeug aus der Hand und warf ihn wieder zu Boden. Eine riesige, krallenbewehrte Pranke legte sich auf seine Brust und hielt ihn nieder.
Kim strampelte mit den Beinen, trat und schlug um sich, aber der Bär schien die Treffer gar nicht zu spüren. Sein gewaltiger Rachen klaffte auf und gewährte Kim einen Blick auf zwei Reihen fingerlanger spitzer Fangzähne. Das einzige Auge funkelte ihn in stummer Wut an.
Aber er biß nicht zu.
Sein Rachen schloß sich, und dann verbrachte er endlose Sekunden damit, Kim von oben bis unten zu beschnüffeln, ohne dabei die Pranke von Kims Brust zu nehmen.
»Das ist seltsam«, brummte er in tiefem, grollendem Baß. »Du siehst aus wie ein Schwarzer, aber du riechst anders. Soll ich dich nun fressen oder nicht?«
Kim ächzte. Die schwere Pranke auf seiner Brust schnürte ihm die Luft ab, und seine Stimme klang seltsam schrill und zitternd, als er sagte: »Ich bin kein schwarzer Ritter.«
»Möglich«, brummte der Bär. »Aber einer von uns bist du auch nicht. Außerdem«, fügte er grimmig hinzu, »trägst du die Kleider der Schwarzen. Vielleicht sollte ich dich doch fressen.«
»Ich schmecke nicht«, krächzte Kim. »Außerdem ist an mir nicht viel dran, und ehe du die Rüstung geknackt hast, hast du dir längst einen saftigen Braten gefangen.«
Der Bär wiegte den Schädel und schien eine Zeitlang ernsthaft über Kims Worte nachzudenken.
»Ach was«, brummte er dann. »Das bißchen Blech. Ich denke, ich fresse dich doch.« Er klappte den Rachen auf und machte Anstalten, seine Drohung wahr zu machen. Aber in diesem Augenblick teilten sich die Büsche hinter ihm, und Gorg warf sich mit weit ausgebreiteten Armen und wütendem Gebrüll auf seinen Rücken.
Der Bär knurrte unwillig, ließ von Kim ab und versuchte, sein Opfer auf Bärenart von sich abzuschütteln. Aber Gorg klammerte sich mit Armen und Beinen an ihm fest, warf sich herum und riß den Bären mit einer gewaltigen Kraftanstrengung von den Füßen. Aneinandergeklammert kollerten sie über den Waldboden.
Der Bär schien nun ernsthaft wütend zu werden. Er sprang auf, schleuderte Gorg von sich und stellte sich auf die Hinterbeine. Der Riese ballte die Fäuste, duckte sich unter den zuschlagenden Tatzen weg und versetzte dem Bären einen Nasenstüber, der ausgereicht hätte, einen Ochsen zu fällen. Der Bär schien ihn nicht einmal zu spüren. Er packte Gorg, hob ihn wie ein Spielzeug hoch und schleuderte ihn so wuchtig zu Boden, daß ein paar junge Bäume durch den Aufprall entwurzelt wurden. Gorg trat nach dem Bären, sprang auf und rammte ihm die Schulter in den Bauch. Der Bär wankte zurück und ging unter einem mächtigen Fausthieb des Riesen zu Boden.
»Laß meine Freunde in Ruhe«, keuchte Gorg. »Ich habe nichts dagegen, wenn du in meinem Gebiet wilderst, aber streiche bitte meine Freunde von deiner Speisekarte, ja?«
»Dein Revier?« empörte sich der Bär. »Du weißt wohl nicht, wo du bist, du Tölpel. Du bist in meinem Revier, schon seit Stunden. Und wieso Freunde? Seit wann«, fügte er mit einem Seitenblick auf Kim hinzu, »hast du Schwarze zu Freunden?«
»Er ist kein schwarzer Ritter«, sagte Gorg nun etwas gedämpfter. »Er sieht nur so aus.«
»So. Dann sieht er nicht gut aus. Sein Glück, daß die Schwarzen nicht schmecken. Sonst hätte ich gar nicht lange gefragt.«
»Ich... äh... nehme an, daß ihr euch kennt«, sagte Kim, der die Szene mit zunehmender Verwunderung beobachtet hatte, unsicher.
Gorg wandte den Kopf, nickte und drehte sich dann wieder dem Bären zu. »Laß ihn in Ruhe, Kelhim«, sagte er drohend. »Wenn du meinen Freunden etwas tust, schlage ich dir den Schädel ein.«
»Ha!« machte Kelhim. »Wer hier wem den Schädel einschlägt, wird sich erst noch zeigen!« Er sprang auf und breitete drohend die Arme aus, um die Frage gleich an Ort und Stelle zu entscheiden. Aber Kim war mit einem Satz ebenfalls auf die Füße gekommen und schob sich nun zwischen die beiden seltsamen Kampfhähne.
»Bitte«, sagte er. »Vielleicht sollten wir erst miteinander reden, ehe wir uns prügeln.«
Der Bär legte den Kopf auf die Seite und blinzelte.
»Mut hat dein winziger Freund ja«, sagte er zu Gorg gewandt. »Wesentlich mehr Mut als du, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.«
Gorg verzog das Gesicht. »Nein, darfst du nicht. Aber egal jetzt«, sagte er. »Laß ihn in Ruhe.«
»Na ja«, brummte Kelhim. »Ich werde dem Winzling schon nichts zuleide tun. Jedenfalls im Moment nicht.«