Erleichtert sah Kim, wie der Bär sich umwandte, ein paar Schritte davontrottete und sich dann gemächlich niederließ.
»Äh... vielleicht«, sagte Kim zögernd zu Gorg, »wäre es nützlich, wenn du uns vorstellst.«
Gorg zuckte mißmutig die Achseln. »Da gibt es nicht viel vorzustellen«, sagte er. »Das ist Kelhim. Ein Bär, wie du siehst. Und der ungehobeltste Kerl, der mir je untergekommen ist. Frißt glatt die Freunde seiner Freunde, wenn man ihn läßt. Er hat überhaupt keine Manieren.«
Kelhim wackelte zornig mit dem Kopf. »Vielleicht fresse ich deinen winzigen Freund doch noch«, knurrte er. »Nur um dich zu ärgern. Und dich gleich dazu.«
Gorg reckte kampflustig das Kinn. »Versuch's doch«, knirschte er. »Versuch's doch.«
Kim seufzte. »Und ihr wollt Freunde sein?«
»Freunde?« heulte Kelhim auf. »Der da - und mein Freund? Eher such ich mir meine Freunde auf Burg Morgon, ehe ich mich mit dem da befreunde. Geh aus dem Weg, Winzling, damit ich diesem Burschen Manieren beibringen kann.«
Kim riß jetzt endgültig die Geduld. Gorg ballte die Fäuste, aber Kim schlug ihm zornig auf die Hand, stapfte dann auf den Bären zu und stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust; er mußte sich zu diesem Zweck auf die Zehenspitzen stellen. »Jetzt hört mir mal zu«, sagte er, »alle beide. Der Wald steckt voller Feinde. Überall lauern schwarze Reiter, und wenn ihr unbedingt wollt, daß sie uns entdecken und niedermachen, dann brüllt euch ruhig weiter an. Aber erlaubt, daß ich währenddessen meiner Wege geh. Ich habe wirklich Besseres zu tun!« Er machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem Pferd und griff nach dem Sattelknauf.
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Kim hob den Kopf und schaute in Gorgs grinsendes Gesicht.
»Bleib«, bat der Riese.
»Aber nur, wenn ihr versprecht, vernünftig zu sein.«
»Ich bin vernünftig«, rief Kelhim. »Aber der da...«
»Schon gut, schon gut!« brüllte Kim. »Ich hab's begriffen. Ihr seid beide vernünftig.« Er schwang sich in den Sattel, um wenigstens ungefähr auf gleicher Höhe mit den beiden zu sein, sah abwechselnd den Riesen und den Bären an und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sind hier alle so?« fragte er. »Wenn ja, wundert es mich nicht, daß Boraas so leichtes Spiel mit euch hat.«
»Boraas und leichtes Spiel?« heulte Kelhim. »Warte, bis ich ihn zwischen die Pranken...«
»Pränkchen«, schränkte Gorg ein.
»Zwischen die Pranken bekomme«, fuhr der Bär fort.
»Nichts wirst du«, sagte Gorg. »Weil du gar nicht erst an ihn herankommst. Dazu bräucht man nämlich Köpfchen, weißt du...«
Kim schloß die Augen und zählte in Gedanken bis fünfzehn. »Von mir aus«, sagte er resignierend, »könnt ihr euch weiterstreiten bis zum Jüngsten Tag. Sagt mir, wohin ich reiten muß, und ich lasse euch in Frieden.«
Kelhim blinzelte, als sähe er Kim das erste Mal. »Dort entlang«, brummte er und deutete mit der Tatze hinter sich. »Aber wir begleiten dich. Allein ist es zu gefährlich.«
Kim zog die Augenbrauen hoch. »Und du glaubst, zusammen mit euch beiden wäre es nicht gefährlich?«
»Zusammen mit dem da«, antwortete Kelhim mit einer Geste auf den Riesen, »sicher. Deswegen komme ich ja mit.«
»Das ist nett«, stöhnte Kim. »Das ist wirklich nett. Da entlang hast du gesagt?« Ohne ein weiteres Wort ritt er an Kelhim und dem Riesen vorbei.
Es dauerte nicht lange, und die beiden sonderbaren Freunde hatten ihn eingeholt.
»He«, brummte Gorg, »du darfst das nicht ernst nehmen. Kelhim und ich zanken uns oft, aber wir meinen's nicht böse.«
»Ach nein?« seufzte Kim.
Der Nachmittag schritt dahin. Sie zogen weiter nach Süden, und Gorg und Kelhim stritten ununterbrochen. Schließlich gelangten sie an eine Weggabelung, und der Riese deutete nach links, ins Tal hinab.
»Dort hinunter«, sagte er. »Wenn wir Glück haben, stoßen wir noch vor dem Dunkelwerden auf die Hauptstraße.«
»Nichts da«, brummte Kelhim. »Die Sonne geht bald unter, und wir sollten sehen, daß wir bis dahin meine Höhle erreicht haben. Ich schlafe nicht gern unter freiem Himmel.«
»Deine Höhle?« Gorgs linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. »Wieso deine Höhle?«
»Du kannst ja weitergehen, bis du vor Müdigkeit umfällst«, meinte Kelhim gleichmütig. »Wir beide gehen jedenfalls jetzt in meine Höhle und übernachten dort.« Er nickte zur Bekräftigung, richtete sich auf die Hinterbeine auf und zog Kim am Arm nach rechts. Der Riese streckte gleichzeitig die Hand aus, ergriff Kims linken Arm und zog nach links.
»Der Bursche denkt doch nur ans Schlafen«, schimpfte Gorg. »Wir müssen weiter. Nur noch den Hügel hinunter, und wir sind auf der Hauptstraße.«
Kim schrie entsetzt auf, als die beiden Riesen gleichzeitig anfingen, ihn in die jeweils entgegengesetzte Richtung zu zerren.
»Hört sofort auf!« rief er. »Sofort!«
Kelhim und Gorg blieben verdutzt stehen. Kim strampelte mit den Beinen und erreichte damit nur, daß sein Pferd unter ihm davonsprang und er hilflos zwischen den beiden Riesen baumelte.
»Loslassen!« brüllte er. »Laßt mich sofort los!«
Die beiden seltsamen Weggefährten gehorchten, und Kim landete aus fast zwei Meter Höhe unsanft auf dem Hosenboden.
»Jetzt reicht es aber«, knirschte er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Jetzt reicht es endgültig!« Er stand auf, rieb sich das Hinterteil und funkelte die beiden wütend an.
»Wo ist deine verdammte Höhle?« brüllte er.
Kelhim deutete verlegen mit der Tatze über die Schulter. »Dort entlang. Es ist nicht mehr weit.«
»Gut«, nickte Kim. »Gehen wir in Dreiteufels Namen hin und übernachten dort. Und morgen früh zeigt ihr mir den Weg und laßt mich in Frieden ziehen. Ihr seid ja schlimmer als die schwarzen Reiter!«
Kelhim hatte nicht übertrieben. Sie waren nicht länger als eine halbe Stunde gelaufen, als der Wald plötzlich aufhörte. Vor ihnen lag eine glatte, senkrecht aufstrebende Felswand, die von hellen und dunklen Erzadern durchzogen war. Kaum einen Meter über dem Erdboden befand sich ein nahezu kreisrunder Höhleneingang.
»Wir sind da«, erklärte Kelhim überflüssigerweise.
»Seine Höhle«, fügte Gorg mit einer Kopfbewegung auf das Loch hinzu.
Kim verzog die Lippen zu einem säuerlichen Grinsen und sagte: »Ich vermute, dieses Loch da ist Kelhims Höhle...« Gorg nickte begeistert. Der ironische Unterton in Kims Stimme schien ihm entgangen zu sein. »Wir werden hier übernachten«, sagte er, »nach einem ausgiebigen Abendessen, versteht sich. Und morgen früh begleiten wir dich ins Tal.« Er grinste und fügte mit Verschwörermiene hinzu: »Die Höhle hat einen zweiten Ausgang, auf der anderen Seite des Berges. Wir sparen eine Menge Zeit, wenn wir durch den Berg hindurch statt um ihn herum gehen.«
Kelhim rollte verwundert die Augen. »Dann wolltest du sowieso hierher?«
»Klar doch«, sagte Gorg ungerührt.
Kim ahnte, was nun kommen würde.
Er sollte recht behalten.
IX
Gorg weckte ihn am nächsten Morgen durch sanftes Rütteln an der Schulter. Kim öffnete widerstrebend die Augen. In der Höhle war es noch finster. Die Glut des Feuers, über dem sie sich ein einfaches, aber wohlschmeckendes Abendmahl bereitet hatten, warf einen sanften roten Schimmer an die rauhen Wände und erweckte die Schatten in den Ecken zum Leben. Schwacher Bratenduft lag in der Luft. Irgendwo tropfte Wasser, und aus dem hinteren Teil der langgezogenen Höhle drangen Kelhims Brummen und das leise, ängstliche Wiehern seines Pferdes. Kim hatte seine ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um das Tier dazu zu bewegen, mit in die Höhle zu kommen, und es war die ganze Nacht unruhig geblieben.
Er stand auf, streckte sich und legte dann den Kopf in den Nacken, um zu Gorg hinaufzuschauen.