Der Riese lächelte väterlich zu ihm herunter. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Es wird Zeit«, sagte er.
Kim gähnte. »Schon?« Er hatte lange geschlafen, aber er fühlte sich noch immer wie zerschlagen.
»Ich fürchte, uns bleibt nicht soviel Zeit, wie wir gehofft haben«, antwortete Gorg.
Im Nu war Kim hellwach. »Ist etwas passiert?« fragte er erschrocken.
Gorg schüttelte den Kopf, nickte dann und erklärte: »In der Nacht ist eine Abteilung schwarzer Reiter an der Höhle vorbeigekommen. - Nein, nein, kein Grund zur Aufregung«, setzte er beschwichtigend hinzu. »Sie haben uns nicht entdeckt, und selbst wenn sie von unserer Anwesenheit gewußt hätten, wären wir hier drinnen sicher gewesen.«
»Ihr hättet mich trotzdem wecken müssen«, sagte Kim.
Gorg winkte ab. »Du hattest den Schlaf bitter nötig«, sagte er bestimmt und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Aber Kelhim konnte die Reiter belauschen.«
»Und?« fragte Kim gespannt.
Gorg zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht, ob es stimmt, aber vielleicht doch... jedenfalls glaubt Kelhim verstanden zu haben, daß sich diese Reiter - und viele andere kleine Gruppen, die in den letzten Wochen über die Berge gekommen sind - mit einem großen Heer vereinigen wollen, das irgendwo ganz in der Nähe auf einen Angriffsbefehl wartet. Vielleicht hat sich Kelhim verhört, vielleicht auch nicht, aber Kelhim und ich, wir jedenfalls sind der Meinung, daß die Nachricht weitergegeben werden sollte.«
»Sie stimmt«, sagte Kim. »Und ihr hättet die Reiter nicht belauschen müssen. Ich habe dieses Heer gesehen.«
Trotz der Düsternis, die in der Höhle herrschte, war das Erschrecken auf Gorgs Gesicht deutlich zu erkennen.
»Es stimmt also?« rief er. »Aber dann...«
»Diese Reiter sind nur die Vorhut«, erklärte Kim. »Wahrscheinlich sollen sie nur die Gegend auskundschaften und Unruhe und Angst unter der Bevölkerung verbreiten. Das eigentliche Heer wartet in den Bergen.«
Gorg schwieg eine Weile. Dann gab er sich einen energischen Ruck, wobei er sich den Kopf an der niedrigen Decke stieß, und verschwand im hinteren Teil der Höhle. Kim hörte ihn eine Zeitlang mit Kelhim reden, dann kamen sie gemeinsam zurück.
»Es stimmt also«, brummte der Bär. »Ich hatte gehofft, mich verhört zu haben.«
»Du hast richtig gehört«, sagte Kim. »Leider. Ich habe dieses Heer gesehen. Ich bin mit ihm zusammen über die Berge gekommen. Daher«, erklärte er mit einer Geste auf den Haufen schwarzen Blechs, der neben seinem Nachtlager am Boden lag, »meine Verkleidung.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« fuhr ihn Kelhim an. Sein einziges Auge funkelte zornig.
Kim wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ihr habt mich nicht gefragt«, sagte er trotzig. »Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, daß es euch wirklich interessiert.«
Kelhim wollte auffahren, aber Gorg legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Kim hat recht«, sagte er. »Es ist unsere eigene Schuld. Aber wir wollen jetzt nicht noch mehr Zeit damit vergeuden, einander Vorwürfe zu machen. Beeilen wir uns lieber.« Als wäre damit alles gesagt, bückte er sich und half Kim, seine Decke zusammenzurollen.
Kim wollte automatisch seine Rüstung anlegen, aber Gorg hielt ihn zurück. »Der Weg ist schwierig«, sagte er. »Du wirst nicht reiten können, und zu Fuß ist dieses schwere Ding eher hinderlich.«
Kim überlegte einen Moment. Vermutlich hatte Gorg recht. Aber aus irgendeinem Grund glaubte er, daß es besser war, wenn er den Harnisch und die Arm- und Beinschützer trug. Er legte den Panzer an, schlüpfte in die schwarzen Kettenhandschuhe und schnallte sich das Schwert um. »Fertig«, sagte er. »Wir können gehen.«
Kelhim betrachtete kopfschüttelnd seine Aufmachung und brummte etwas Unverständliches. Dann verschwand er im Inneren der Höhle. Kim folgte ihm, die Hand beruhigend und zugleich schutzsuchend auf den Hals seines Pferdes gelegt. Gorg bildete den Schluß.
Das schwache rote Licht der Glut blieb rasch zurück, und tiefe Dunkelheit umgab sie. Kim versuchte eine Zeitlang, mit geschlossenen Augen zu gehen, um sich ganz auf die Signale seine Gehör- und Tastsinnes zu konzentrieren - mit dem Ergebnis, daß er wie ein Blinder über den unebenen Boden stolperte und andauernd gegen Felszacken und Steine stieß. Es ging tatsächlich besser, wenn er die Augen offenhielt, obwohl es außer tintiger Schwärze absolut nichts zu sehen gab. Aber sein Körper konnte die gewohnten Reflexe eben nicht in ein paar Augenblicken vergessen.
Der Weg zog sich endlos in die Länge. Oft leitete ihn Gorg mit sicherer Hand über steil abfallende Hänge, die mit lockerem Geröll bedeckt waren, das immer wieder unter seinen und den Tritten des Pferdes nachgab und kleine Steinlawinen auslöste, die donnernd in die Tiefe sausten und die Dunkelheit mit hallenden, nicht abreißenden Echos erfüllten. Es gab steinerne Treppen, die in engen Spiralen tiefer in den Leib der Erde hineinführten, und endlose gerade Strecken, auf denen sich das Geräusch ihrer Schritte echolos verlor. Nach Kims Zeitgefühl mußten Stunden vergangen sein, als endlich, noch weit vor ihnen, ein Lichtpunkt, nicht größer als ein Stecknadelkopf, sichtbar wurde.
»Gleich haben wir's geschafft«, sagte Gorg. Es klang erleichtert. Kim fragte sich unwillkürlich, welche Geheimnisse und Gefahren die Höhle wohl bergen mochte, daß sogar der Riese erleichtert war, sie wieder zu verlassen.
Aber sie erreichten den Höhlenausgang ohne einen einzigen gefährlichen Zwischenfall. Vor ihnen lag ein schmales, sichelförmiges Felsplateau, kaum groß genug, ihnen gemeinsam Platz zu bieten, und an drei Seiten von senkrecht abfallenden Wänden begrenzt. Zur Rechten führte ein schmaler Steig an der Felswand entlang. Von diesem Plateau schweifte der Blick ungehindert über ein schier endloses grünes Land voller Wälder und Wiesen und verlor sich irgendwo im Westen in grünblauer Unendlichkeit.
Kelhim ließ Kim keine Zeit, die Aussicht zu genießen. Ungeduldig forderte er ihn auf, in den Sattel zu steigen.
Kim äugte mißtrauisch zu dem kaum anderthalb Meter breiten Pfad hinüber. Ein einziger Fehltritt, und er würde mitsamt seinem Pferd fünfzig oder mehr Meter in die Tiefe stürzen.
»Mach schon«, drängte Kelhim. »Der Weg wird gleich breiter. Du bist nicht der erste, der ihn geht.«
Kim schwang sich gehorsam in den Sattel und lenkte Junge mit sanftem Schenkeldruck auf den Weg. Das Pferd scheute, und er mußte einen zweiten Anlauf nehmen, ehe es vorsichtig einen Fuß auf das schmale Felsband setzte. Kim blickte unvorsichtigerweise in die Tiefe. Der Stein fiel neben ihm lotrecht ab, und unten gähnte ein tödlicher Abgrund voll messerscharfer Grate und gierig emporgestreckter Felsdornen. Wenn sein Pferd jetzt einen Fehltritt tat, brauchte er sich um seine und die Zukunft Märchenmonds keine Sorgen mehr zu machen.
Aber Junge tat keinen Fehltritt. Bedächtig und sicher trabte er über das schmale Felsband und erreichte nach wenigen Metern eine Biegung, hinter der der Felsen zur Rechten zurückwich und der Weg tatsächlich etwas breiter wurde. Kim atmete erleichtert auf und wandte sich im Sattel um. Der Riese und der Bär waren ihm dicht gefolgt. Ihm fiel auf, daß Kelhim immer wieder zum Höhleneingang zurückblickte, als erwarte er, dort jemand oder etwas Bestimmtes auftauchen zu sehen.
»Weiter«, drängte Gorg. Seine Stimme hatte noch immer einen besorgten Unterton. »Wir müssen vom Berg herunter.«
Kim zuckte die Achseln, gab dem Pferd sanft die Sporen und ritt in gemäßigtem Galopp vor den beiden Freunden her.
Erst als sie am Fuße der Felswand angelangt waren und im Schutz einer Gruppe mächtiger Ulmen standen, gestattete ihm Kelhim anzuhalten.
»Wartet hier«, sagte er. »Ich gehe voraus. Kundschaften.«
Kim blickte ihm kopfschüttelnd nach, bis er zwischen den Büschen verschwunden war.
»Was hat er?«
Statt einer Antwort drehte Gorg sich um und zog Kim ein paar Meter den Weg zurück, den sie gekommen waren.