»Sieh«, sagte er.
Kims Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Er erschrak. Von hier aus konnten sie fast den gesamten Berg überblicken, und der Höhlenausgang, aus dem sie herausgekommen waren, lag deutlich erkennbar vor ihnen.
Etwas hatte sich verändert. Kim konnte das Neue, Unbekannte nicht in Worten fassen, und doch spürte er das Unheimliche und Bedrohliche. Es war, als wäre ein Stück der Dunkelheit, durch die sie gewandert waren, hinter ihnen auf das Felsplateau hinausgekrochen.
Er schüttelte sich, wandte den Blick ab und beschloß, die Sache für sich zu behalten.
Kelhim blieb lange fort, und Kim nutzte die Zeit, sich aufmerksam in der neuen Umgebung umzusehen. Seit er das Schattengebirge verlassen hatte, umgab ihn die Schönheit dieses Landes, eine Schönheit und heitere Lieblichkeit, die, je weiter er nach Westen kam, sich noch mehr zu entfalten schien. Nichts war hier künstlich oder gewaltsam verändert. Alles war so, wie die Natur es geschaffen hatte; wild, ungezügelt und doch einer höheren Ordnung gehorchend. Die Luft war so klar, daß das Atmen eine Lust war, und das Sonnenlicht spiegelte sich im Tau, der auf den Blättern lag, in allen Farben des Regenbogens.
Kim wurde rauh aus seiner Betrachtung gerissen, als Kelhim mit Getöse aus dem Wald hervorbrach.
»Sie kämpfen!« schnaubte er aufgeregt.
Kim und Gorg starrten ihn an.
»Wer kämpft?« fragte der Riese.
»Und wo?« fragte Kim.
»Schwarze Reiter! Gegen die Unseren. Unten im Tal, gleich hinter dem Wald! Kommt! Schnell!«
Gorg stieß einen heiseren Kampfschrei aus, schwang seine Keule und rannte hinter dem Bären her geradewegs in den Wald hinein. Kim folgte ihnen, so schnell er konnte. In dem dichten Unterholz gewannen die beiden rasch Vorsprung. Aber nach wenigen Minuten erreichten sie einen schmalen Waldweg, auf dem Kim die überlegene Schnelligkeit seines Pferdes voll ausspielen konnte, und als sie den Waldrand erreichten, hatte er sich bereits an die Spitze gesetzt.
Vor ihnen tobte ein gnadenloser Kampf. Etwa fünfzig schwarze Reiter hatten eine nur halb so große Schar in fließendes Weiß und schimmerndes Gold gekleideter Männer in der Mitte der Lichtung zusammengetrieben und drangen erbarmungslos auf sie ein. Das Gras rötete sich vom Blut der Erschlagenen, und die Mehrzahl der Toten trug das fleckige Schwarz der Reiter Morgons. Trotzdem war deutlich zu erkennen, daß die Schwarzen im Vorteil waren. Die Kräfte der weißen Ritter erlahmten mehr und mehr, und in das Klirren der Waffen und das Stampfen der Pferde mischten sich immer wieder gellende Schmerzensschreie, wenn eine der schwarzen Klingen ihr Ziel fand.
Und inmitten dieses Getümmels, hoch aufgerichtet und einen knorrigen Stab schwingend, stand ein weißhaariger alter Mann.
»Themistokles!« rief Kim entsetzt. Seine Stimme ging im Getöse der Schlacht unter; dennoch hatte er den Eindruck, daß der alte Magier für einen Augenblick aufsah und zu ihm herüberschaute.
Kim duckte sich tief über den Hals seines Pferdes, preßte ihm die Sporen in die Flanken und galoppierte den Hang hinunter. Kelhim und der Riese folgten ihm. Ihr wildes Gebrüll übertönte den Kampflärm und lenkte die Aufmerksamkeit der Kämpfenden auf sich.
Erst zwei, dann vier und schließlich sechs der schwarzen Reiter brachen aus der Reihe der Angreifer aus, zwangen ihre Pferde herum und galoppierten mit gezückten Waffen heran. Für sie - wie für die anderen auch - mußte es aussehen, als würde hier einer der Ihren von einem brüllenden Riesen und einem rabiaten Bären verfolgt.
Sie erkannten ihren Irrtum zu spät. Kim gab dem Pferd abermals die Sporen, duckte sich noch tiefer über seinen Hals und verlangte ihm das Letzte ab. Er ritt auf zwei der heranjagenden schwarzen Reiter zu, und als er genau zwischen ihnen war, riß er sein Schwert in die Höhe und hieb mit einem wohlgezielten Streich die beiden Reiter rechts und links von sich aus dem Sattel.
Ein Aufschrei ging durch die Reihen der morgonischen Reiter. Kim schwenkte sein Pferd herum, schlug einen dritten Reiter nieder, fing einen Schwertstoß mit dem bloßen Unterarm ab und fällte auch seinen vierten Gegner. Die beiden letzten Reiter wurden fast im gleichen Augenblick von Kelhim und Gorg aus den Sätteln gerissen.
Kim schwang seine Waffe hoch über den Kopf und jagte in gestrecktem Galopp auf das Schlachtfeld zu. Der Kampf tobte unvermindert weiter, aber der Verlauf der Schlacht hatte sich geändert. Die Reihe der schwarzen Reiter wankte, wich zurück, formierte sich neu und zerbrach dann unter einem wütenden Ansturm der weißen Ritter, die durch das plötzliche Auftauchen dieser unerwarteten Hilfe neue Kraft und neuen Mut schöpften. Die Schwarzen wichen zurück. Ihre geordnete Phalanx zersplitterte in mehrere Teile und löste sich dann in heilloses Chaos auf. Einer nach dem anderen der schwarzen Reiter wandte sich zur Flucht.
Aber es gab kein Entkommen. Wurden sie von hinten von ihren goldgepanzerten Gegnern bedrängt, die sich in Sekundenschnelle von Gejagten in Jäger verwandelt hatten, so liefen sie auf der anderen Seite einem der neu aufgetauchten, schrecklichen Feinde in die Arme. Kelhim brüllte wild auf, stellte sich auf die Hinterbeine und breitete die Arme wie zu einer tödlichen Begrüßung aus. Seine Pranken zermalmten Stahl und ließen Panzer zerbrechen, während auf der anderen Seite Gorgs Keule erbarmungslos wütete.
Irgend etwas geschah in diesem Moment mit Kim. Die Waffe in seinen Händen schien zu eigenem Leben zu erwachen. Sein Schwert beschrieb einen tödlichen, blitzenden Halbkreis in der Luft, zerbrach Schilde und Speere, krachte auf Rüstungen und Panzer herunter. Ein Hieb traf seine Schulter und lähmte sie, aber er spürte den Schmerz kaum. Er wechselte das Schwert von der Rechten in die Linke und kämpfte mit unverminderter Kraft weiter. Ein schwarzer Reiter prallte mit seinem Streitroß gegen ihn, drängte ihn zur Seite und zielte mit einem Speer auf seinen Kopf. Kim duckte sich, schlug den Speer mit der bloßen Faust beiseite und führte einen blitzschnellen Hieb gegen den Schild des Angreifers. Sein Schwert grub eine tiefe Kerbe in das Holz, und der Schlag war so hart, daß er ihn und seinen Gegner zugleich aus dem Sattel warf. Kim fiel auf den Rücken, sprang blitzschnell hoch und parierte einen aufwärts geführten Schwertstreich seines Gegners. Ihre Klingen trafen funkensprühend aufeinander, glitten ab und kreuzten sich wieder. Kim taumelte zurück, blieb einen Herzschlag lang reglos stehen und rang keuchend nach Atem. Sein Gegner schien genauso erschöpft zu sein wie er. Kim sah, wie sich die Brust unter dem schwarzen Panzer in hektischen Stößen hob und senkte und das Schwert zitterte, als hätte der Arm kaum noch genügend Kraft, es zu halten.
Plötzlich bemerkte Kim, wie still es geworden war. Der Kampf war zu Ende, und sein Gegner war der letzte der schwarzen Reiter, der noch übriggeblieben war. Keinem der anderen war die Flucht geglückt.
»Gib auf«, rief Kim. »Du hast keine Chance.«
Der andere schien einen Moment zu überlegen. Dann stieß er ein dumpfes, qualvolles Knurren aus, warf seinen Schild fort und drang mit hocherhobenem Schwert auf Kim ein.
Ein goldener Speer zischte durch die Luft und durchbohrte den Feind.
Kim ließ das Schwert sinken. Seine Finger hatten plötzlich nicht mehr die Kraft, den Griff festzuhalten. Seine Hand öffnete sich. Die Waffe polterte ins Gras, und Kim sank kraftlos in die Knie. Sekundenlang hockte er mit geschlossenen Augen da und wartete, daß der Schwächeanfall vorüberging. Dann hob er den Kopf und blickte in die Runde.
Ein dichter Ring weißer Ritter umgab ihn. Es waren große, schlanke Männer, in bodenlange weiße Umhänge gekleidet, unter denen goldene Brustpanzer schimmerten. Auf den Köpfen trugen sie flache Helme, die im Nacken bis auf die Schultern herabreichten und vorne in einen schmalen, auswärts gekrümmten Nasenschutz ausliefen. Keiner der Männer sprach. Sie standen nur stumm da, starrten ihn an und umklammerten unsicher ihre Waffen.