Themistokles senkte die Stimme zum Flüstern, als er fortfuhr. »Die Sage geht noch weiter, Kim. Sie berichtet, daß das Ende von Märchenmond gekommen ist, wenn der Schwarze Lord erscheint.«
»Unmöglich!« stieß Kim hervor. »Du mußt dich irren, Themistokles. Es ist nur eine Sage. Ein Märchen, mehr nicht. Wir werden das schwarze Heer besiegen, so, wie wir diesen Trupp besiegt haben!« Er sprang auf die Füße.
Themistokles schüttelte den Kopf. »In jeder Sage steckt ein Stück Wahrheit, Kim«, sagte er leise. »Du magst es noch nicht begreifen, aber manchmal sind es gerade die unwirklichen Dinge, die Wirklichkeit werden.«
Kim seufzte. »Noch ist nicht gesagt, daß es sich bei dem Mann, den ich gesehen habe, tatsächlich um den Schwarzen Lord handelt - wenn es ihn überhaupt gibt. Wir haben noch Zeit. Boraas' Heer hat sich noch nicht formiert, und wir können die Verteidigung des Landes organisieren.«
Themistokles starrte zu Boden und schien dann wie aus tiefem Schlaf zu erwachen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er, aber seinen Worten fehlte die Überzeugung. »Wir werden jedenfalls tun, was in unseren Kräften steht.«
Kim lächelte. Themistokles' düstere Prophezeiung nagte in ihm, doch er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie kam es überhaupt zu diesem Kampf?« fragte er, um Themistokles auf andere Gedanken zu bringen. »Ihr seid in einen Hinterhalt geraten?«
»Nein, das glaube ich nicht. Um uns einen Hinterhalt zu legen, dazu hätte Boraas mit Sicherheit mehr Krieger aufgeboten. Vermutlich waren die schwarzen Reiter genauso überrascht über das Zusammentreffen wie wir. Es handelte sich wohl um einen dieser kleinen Trupps, die die Gegend entlang dem Gebirge durchstreifen und unter der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiten. - Wir haben Patrouillen ausgeschickt, um die Bevölkerung zu warnen«, erklärte Themistokles. »Aber oft kommen wir zu spät, wie du selbst gesehen hast«, fügte er unglücklich hinzu. »Jedenfalls sind die schwarzen Reiter bisher dem offenen Kampf ausgewichen. Doch vielleicht haben sie ihre Taktik geändert. Vielleicht steht der Angriff schon unmittelbar bevor.«
»Wie seid ihr überhaupt hierhergekommen?« fragte Kim.
»Ich befinde mich auf einer Reise durch Märchenmond«, antwortete Themistokles. »Der längsten und zugleich schlimmsten Reise meines Lebens.«
»Wie meinst du das?«
»Märchenmond ist das Land des Friedens«, sagte Themistokles. »Aber meine Begleiter und ich ziehen von Ort zu Ort, um die Bewohner zum Krieg zusammenzurufen. Wir ahnten schon, daß uns von Boraas Gefahr droht, wenn wir uns auch nicht vorstellen konnten, wie groß diese Gefahr tatsächlich ist. Wir versuchen, Verbündete zu finden.«
»Verbündete?« fragte Kim ungläubig. »Aber... habt ihr denn kein Heer?«
»Nein, Kim, wir haben kein Heer. Märchenmond hatte für Soldaten bisher keine Verwendung. Wir kennen hier keine Feindschaft, denn wir leben in Harmonie mit der Natur und ihren Gesetzen.«
»Aber ihr müßt euch doch verteidigen können!« rief Kim. Die Vorstellung, daß ein so mächtiges Reich wie Märchenmond für den Fall eines bewaffneten Überfalls in keiner Weise gerüstet war, erschien ihm geradezu absurd.
»Und doch ist es so«, sagte Themistokles. »Die Reitergarde, die mich begleitet, versteht es zwar, das Schwert zu führen, wie du gesehen hast, aber auch ihr Beruf ist nicht das Töten. Und die meisten von ihnen liegen hier tot«, fügte Themistokles bitter hinzu. »Wir haben keine Armee, weil wir nie eine brauchten. Doch die Situation hat sich jetzt gründlich geändert. Wir können nicht auf ein Wunder warten, um Märchenmond zu retten. Deshalb sind wir aufgebrochen.«
»Und habt ihr... Verbündete gefunden?« fragte Kim.
Themistokles nickte. »Ja, wenn auch nicht genug, wie ich jetzt befürchten muß. Unsere Reise ist fast beendet. Morgen werden wir unser letztes Ziel, das Land der Steppenreiter, erreichen. Dann kehren wir nach Gorywynn zurück.«
Einer der weißen Reiter kam herbei und sagte mit einer ehrfürchtigen Verneigung vor Themistokles und einem raschen Blick auf Kim: »Wir sind bereit, Herr.«
Themistokles nickte. »Gut. Wir brechen auf.«
Kim deutete auf die lange Reihe weißverhüllter Gestalten, die im Schatten der Bäume lagen. »Ihr laßt sie einfach zurück?« fragte er.
»Wir begraben unsere Toten nicht«, antwortete Themistokles. »Wir verehren den Geist, nicht das Fleisch, das ihm als Wohnung dient. In wenigen Tagen zerfällt der Körper zu Staub und kehrt zurück in den Kreislauf von Werden und Vergehen. Wir ehren unsere Toten durch die Achtung des Lebens«, schloß er. »Jetzt komm. Wir müssen weiter!«
Kim stieß einen schrillen Pfiff aus, und sein Pferd kam gehorsam angetrabt. Themistokles maß den Rappen mit einem bewundernden Blick. »Ein prachtvolles Tier«, sagte er. »Du hast es erbeutet?«
»Eigentlich hat es mich erbeutet«, sagte Kim. »Ich glaube nicht, daß es seinen früheren Herrn sehr vermißt.«
Themistokles lächelte, wurde aber sogleich wieder ernst. »Deine Rüstung«, sagte er. »Du solltest sie ablegen. Du brauchst sie nicht mehr.«
Kim blickte an sich herunter. Der schwarze Panzer hatte seinen schimmernden Glanz längst verloren und war fleckig und stumpf, voller Beulen und Schrammen. »Ich möchte ihn behalten«, sagte er. »Er hat mir Glück gebracht, weißt du.« Themistokles hob die Schultern. »Wie du willst«, sagte er. »Doch warte.« Er ging zu einem Pferd, öffnete die Packtasche und entnahm ihr ein eng zusammengerolltes Bündel, das er Kim in die Hand drückte. Kim faltete es auseinander. Es war ein dünner, durchscheinender Umhang aus feinem weißem Gewebe, mit hauchfeinen Gold- und Silberfäden durchwirkt. Er schien vollkommen gewichtslos zu sein, und doch hing er in schweren, geraden Falten herunter, als wäre er aus Samt oder Brokat. Kim ließ den Umhang bewundernd durch die Hände gleiten, daß er im hellen Sonnenlicht schimmerte wie verwobenes Glas. Behutsam legte Kim ihn sich um die Schultern und spürte, wie sich das Kleidungsstück wie ein lebendes Wesen um seine Schultern schmiegte.
»Danke«, sagte er, während seine Finger über den samtweichen Stoff glitten. »Das ist... wunderschön.«
Themistokles lächelte.
»Er gehört dir«, sagte er. »Dieser Umhang hat auf dich gewartet.«
Kims Blick hing wie verzaubert an dem hauchzarten Gespinst aus eingefangenen Sonnenstrahlen.
»Gib gut auf ihn acht«, mahnte Themistokles. »Er ist uralt. Älter als ich, älter als Märchenmond vielleicht. Viele haben sich gewünscht, ihn zu tragen, aber noch keinem war es vergönnt. Du bist der erste, der Laurins Mantel trägt.«
»Laurins Mantel?«
Themistokles zögerte. »Auch bei euch«, sagte er dann, »gibt es eine Sage von Laurin, dem Zwergenkönig.«
Kim nickte. »Ich kenne sie. Willst du behaupten, daß es kein Märchen ist?«
»Ja und nein. Die Menschen haben es schon immer verstanden, eine Geschichte so lange und so oft und immer wieder neu zu erzählen, sie umzudichten, zu verändern und zu verdrehen, bis von ihrem ursprünglichen Sinn nicht mehr viel zu erkennen war. Aber wer an das Wunderbare glaubt, wer wie du bereit ist, alles zu riskieren, um alles zu gewinnen, der wird Dinge erfahren, die sich andere Menschen niemals träumen ließen.«
»Wie meinst du das?«
»Es gibt...« Themistokles besann sich. »Verzeih«, bat er. »Ich schweife ab. Die Zeit ist noch nicht reif, um dir zu sagen, was hinter allem steht. - Nein«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Dringe nicht in mich, ich bitte dich. Später, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, werde ich dir alles erklären. Vorerst nimm mein Wort, daß dies wirklich Laurins Mantel ist. Er verleiht seinem Träger große Macht. Aber die Schultern, um die er sich legt, tragen auch eine große Verantwortung.«