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»Macht?« fragte Kim. »Was für Macht?«

»Der Sage nach«, antwortete Themistokles, und Kim spürte, daß es ihn Mühe kostete, es auszusprechen, »kann er seinen Besitzer unsichtbar machen. Wer ihn trägt, vermag durch Wände und feste Hindernisse zu schreiten, ohne von eines Menschen Auge gesehen oder von einer Waffe verwundet zu werden.«

»Unsichtbar!« rief Kim. Unwillkürlich zog er die Finger von dem zarten Gewebe zurück, als befürchtete er, den kostbaren Umhang zu beschädigen oder zu beschmutzen. »Aber das wäre ja... wenn das stimmt, dann sind wir gerettet! Mit diesem Mantel könnte man mitten ins Herz von Boraas' Armee vordringen, ohne gesehen zu werden. Wir könnten ihn aus seinem Zelt holen, wir...«

Themistokles unterbrach ihn mit einer mahnenden Geste. »Du hast mich nicht ausreden lassen, Kim«, sagte er. »Der Umhang verleiht dir Unsichtbarkeit, aber er tut es nur ein einziges Mal. Wenn du dich einmal seiner Gabe bedienst, ist seine Kraft erschöpft, und er wird zu dem, was er war, bevor Laurins Zauber auf ihn fieclass="underline" zu einem ganz gewöhnlichen Stück Stoff. Dieser Umhang ist unsere letzte Waffe, das letzte Mittel, wenn alles andere versagt hat. Benutze ihn nicht leichtfertig, Kim.«

Kim brauchte eine Weile, um zu begreifen, was für einen Schatz ihm Themistokles da anvertraut hatte. Vielleicht lag nun das Schicksal dieser ganzen Welt in seinen Händen.

»Ich... verspreche es«, stammelte er.

Themistokles nickte. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu seinem Pferd. Aber Kim hatte noch eine Frage an ihn, die schon die ganze Zeit auf seinen Lippen brannte.

»Auf ein Wort noch, Themistokles.«

Themistokles drehte sich um. Auf seinen Stab gestützt, sah er an Kim vorbei auf die Lichtung hinaus. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. »Ja?«

Kim schluckte. Plötzlich saß ihm ein würgender Kloß in der Kehle. Die Frage, die ihn nicht ruhen ließ, seit er aus Morgon geflohen war, wollte auf einmal nicht heraus. Aber er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurückzukönnen. Ein zweites Mal würde er den Mut dazu nicht aufbringen. »Boraas erzählte mir etwas«, begann er ungeschickt. »Etwas, was ich nicht glauben kann, aber...«

»Er hat dir gesagt, daß wir Brüder sind«, sagte Themistokles ruhig.

Kim nickte.

»Es ist die Wahrheit«, sagte der alte Magier. »Und auch wieder nicht. Es mag für dich schwer zu verstehen sein, aber wir sind uns so gleich, wie sich zwei Brüder nur sein können, und doch sind wir so verschieden voneinander wie nur irgend zwei Menschen auf der Welt. Ja, wir sind Brüder. Mehr noch, wir waren eins - eine Seele, so hätte man meinen können, die zufällig in zwei verschiedenen Körpern wohnte. Was der eine dachte, tat der andere, und umgekehrt. Aber diese Zeit liegt weit zurück. Sehr weit, Kim. Es geschah etwas, was uns trennte.«

»Was?« fragte Kim.

Themistokles lächelte. »Du würdest es nicht verstehen, selbst wenn ich es dir erklären könnte. Unsere Wege trennten sich, und je weiter wir uns voneinander entfernten, desto verschiedener wurden auch die Pfade, die wir einschlugen, um unser Schicksal zu meistern. Es ist eine lange, traurige Geschichte, Kim. Boraas war nicht immer so, wie er ist, und vielleicht trage auch ich ein wenig Schuld daran, daß er so wurde. Vielleicht wir alle.«

»Du?« fragte Kim ungläubig. Er hätte gelacht, wäre Themistokles nicht so unerschütterlich ernst geblieben. »Du gibst dir die Schuld daran, daß Boraas sich zum Bösen gewandelt hat? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Und doch ist es so. Boraas ging den falschen Weg, das stimmt. Aber jeder von uns kommt irgendwann einmal in Versuchung, dasselbe zu tun. Kein Mensch kann von sich behaupten, er kenne nicht die Verlockung, die diese finstere Seite des Lebens ausstrahlt. Und es gibt Menschen - und es sind nicht wenige, Kim -, die allein nicht die Kraft haben, dieser Verlockung zu widerstehen. Boraas war wie ich, aber er hatte nicht meine Stärke. Ich hatte sie, und ich wußte auch, daß er sie nicht hatte. Es wäre meine Pflicht gewesen, ihn zurückzuhalten. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich im richtigen Moment an seiner Seite gestanden hätte.«

Kim schüttelte trotzig den Kopf. »Mit diesem Argument kannst du dir gleich die Schuld geben an jedem Verbrechen, das irgendwo auf der Welt geschieht«, sagte er.

Themistokles schwieg einen Moment. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Kim. »Aber vielleicht war es auch ein Fehler, es dir erklären zu wollen. Und nun komm, Kim. Für einen Tag ist genug Blut geflossen. Laß uns gehen. Unser Weg ist noch weit.« Er wandte sich um und ging mit raschen Schritten davon. Kim folgte ihm.

Themistokles schritt zügig voran, warf noch einmal einen Blick über das Schlachtfeld und hob sich dann mit einem Schwung in den Sattel, dessen Kraft und Eleganz sein scheinbares Alter Lügen strafte. Und erst jetzt, aus der Nähe, sah Kim, daß Themistokles' Männer ebenso wie dieser selbst nicht auf Pferden, sondern auf großen weißen Einhörnern ritten. Die Tiere wirkten genauso stolz wie ihre Reiter, und wenn das Fell der meisten auch blutig und zerschrammt war, so boten sie doch einen prachtvollen Anblick. Themistokles winkte. Kim sprang behende in den Sattel und schloß sich an. Die Einhörner wichen zurück, als sie das große, schwarze Roß zwischen sich auftauchen sahen, und einige scheuten, so daß sie von ihren Reitern beruhigt werden mußten. Kim glaubte die Furcht und Abneigung der Tiere deutlich zu spüren. Mit ihren langen, gewundenen Hörnern, die spitz wie Dolche waren und an langgezogene Schneckenhäuser erinnerten, wäre es ihnen ein leichtes gewesen, Kim und sein Pferd in Sekundenschnelle zu töten.

Themistokles rief mit lauter Stimme einen Befehl, und die Gruppe setzte sich in Bewegung, wobei die herrenlosen Tiere unaufgefordert hinter den Reitern aufschlossen. Kelhim und Gorg folgten zögernd in einigem Abstand, bis Themistokles sich im Sattel umdrehte und Gorg zu sich rief. Der Riese war mit ein paar langen Schritten bei ihm, dicht gefolgt von Kelhim, der wie ein brauner, struppiger Schatten hinter ihm nachzottelte.

Themistokles mußte den Kopf in den Nacken legen, um Gorg ins Gesicht sehen zu können.

»Ich möchte, daß ihr uns begleitet«, sagte er zu ihm. »Euer Wort gilt viel bei den Steppenreitern. Sie sind ein stolzes und eigenwilliges Volk. Aber wenn ihr mich begleitet, werden sie mir Gehör schenken.«

Gorg schwieg dazu, und Kelhim brummte etwas Unverständliches.

»Ich weiß, daß ihr lieber hierbleiben und Jagd auf die schwarzen Reiter machen würdet«, fuhr Themistokles fort. »Aber glaubt mir - dort, wo wir hingehen, seid ihr nützlicher. Eure Arbeit hier ist getan. Die Leute in den Bergen sind geflohen, und...«

»Nicht alle«, unterbrach Gorg. Seine Stimme klang mit einem Mal ganz anders, kein bißchen unterwürfig oder furchtsam. »Nicht alle konnten rechtzeitig gewarnt werden. Der Berghof... wir... wir kamen zu spät...«

Themistokles nickte traurig. »Ich weiß, Gorg. Kim erzählte mir davon. Aber ich weiß auch, daß euch keine Schuld trifft.«

»Wir haben die Mörder verfolgt«, brummte Kelhim. »Und wir hätten sie gestellt, wenn wir nicht auf den da getroffen wären. Aber wir dachten, es wäre wichtiger, auf ihn aufzupassen.«

»Es war richtig«, bestätigte Themistokles. »Rache nutzt niemandem etwas, Kelhim. Am wenigsten den Erschlagenen.« Kim hatte den Wortwechsel mit wachsendem Erstaunen verfolgt. Er wartete, bis Gorg und Kelhim an ihren Platz am Ende des Zuges zurückgekehrt waren. Dann lenkte er sein Pferd neben das Einhorn des Zauberers und blickte Themistokles fragend an.

»Aufpassen?« platzte er heraus. »Die beiden sollten auf mich aufpassen?«

Ein amüsiertes Lächeln stahl sich in Themistokles' Augen. »Kelhim ist oft nicht sehr zimperlich bei der Wahl seiner Worte.«

»Aber ich verstehe nicht... ich dachte, wir wären uns zufällig begegnet.«